Andere Menschen loslassen?

von Betina Graf

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Ab und zu lese ich im Internet oder in Zeitschriften Tipps zum Thema Loslassen. Und manchmal bekommt man den Ratschlag, Freundinnen, “die mit der Zeit nur nerven”, loszulassen. Auch von Bekannten habe ich davon gehört, dass sie alle Menschen, die sie anstrengend finden, loslassen wollen. Schon damals, als dieser Gedanke in einer kleinen Runde geäußert wurde, verursachte diese Idee bei mir Unbehagen und irritierte mich.

Uns mit lieben Menschen zusammen in Watte packen

Sollen wir uns tatsächlich nur mit unproblematischen, netten, freundlichen Menschen umgeben? Uns abschotten von allen, die für uns eine Herausforderung darstellen? Mir kommt es so vor, als wollten wir uns mit diesem Gedanken in Watte packen und unsere eigene, kleine, „sonnige“ Welt konstruieren. Ist das so falsch? Oder warum beschleicht mich bei diesem Gedanken ein so unangenehmes Gefühl?


Erinnerung an Menschen, die für mich ein kleines bisschen »Engel«  waren

Ich tauche ein in meine Vergangenheit. Wie oft gab es hier Menschen, die bei mir ein kleines bisschen „Engel“ gespielt haben. Und glauben Sie mir, ich war kein einfaches Kind, keine einfache Jugendliche. Manche Menschen in meiner Vergangenheit tauchten nur kurz auf, zeigten mir durch ihr Verhalten etwas Ungewöhnliches, was aus meinem Raster fiel, und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Und dann gab es Freundinnen, die mich begleiteten und unterstützten – auch und gerade in Zeiten, in denen es für sie unangenehm war, in denen ich „anstrengend“ für sie war. Ja, in denen sie sich überwinden mussten, und vielleicht lieber etwas anderes getan hätten. Wie dankbar bin ich heute für diese „Engel“ in Menschenform – für die, die nur kurz in mein Leben traten, und für die, die mich schon längere Zeit begleiten!

Wie wäre es denn gewesen, wenn diese Menschen nach dem Motto gehandelt hätten: „Ich lasse alle problematischen Beziehungen los.“ Hätte ich den (inneren) Weg beschreiten können, auf den sie mich geführt haben? Wäre dies wirklich der Weg der Liebe gewesen?


Auf die eigenen Ressourcen achten

Natürlich kommt es auf die eigenen Ressourcen an, wie viel man anderen Menschen an Zeit, Zuneigung, Aufmerksamkeit, Mitgefühl, Geduld etc. zu einem bestimmten Zeitpunkt geben kann. Doch die Grundhaltung, „störende“ Menschen loszulassen, lässt diese Menschen allein. Man richtet sich selber warm ein, und übersieht dabei die liebende Verantwortung, die wir gegenüber anderen Menschen haben.

Sollte es nicht so sein, dass wir einer Art „Fügung“ unterliegen? Dass es einen Sinn hat, wenn uns unterschiedliche Menschen auf unserem Lebensweg begegnen? Und: welche Verantwortung ist es, die wir mit dem „Loslassen“ in diesem Fall beiseiteschieben?

Vielleicht eine vertane Chance?


Festhalten oder Loslassen – auf sich achten

Das Festhalten an Menschen, die unser Leben geprägt haben, kann also ebenso bedeutsam sein wie der Akt des Loslassens. Es gibt Situationen, in denen das Festhalten nicht aus Angst oder Unfähigkeit zu verändern resultiert, sondern aus einer tiefen Wertschätzung für die gemeinsame Geschichte und den gegenseitigen Einfluss, den wir aufeinander haben.

Es ist wichtig, die Balance zu finden zwischen dem Festhalten an Beziehungen, die uns nähren, inspirieren und unterstützen, und dem Loslassen von solchen, die uns hindern, unser volles Potenzial zu entfalten. Manchmal bedeutet Festhalten, sich den Herausforderungen zu stellen, die Beziehungen mit sich bringen können, und daran zu arbeiten, diese zu überwinden. Dies kann eine Gelegenheit für Wachstum, sowohl persönlich als auch gemeinsam, darstellen.

Das Festhalten an wichtigen Beziehungen erfordert Engagement, Verständnis und die Bereitschaft, sich durch schwierige Zeiten zu arbeiten. Es geht darum, den Wert zu erkennen, den diese Verbindungen in unserem Leben haben, und die Rolle, die sie bei der Formung unserer Identität und unserer Lebenswege spielen. Auch diese Weise können sich Freundschaften auch vertiefen.

Allerdings ist es wesentlich, sich selbst treu zu bleiben und zu erkennen, wann das Festhalten mehr Schaden als Nutzen bringt. Es ist eine Gratwanderung zwischen der Wertschätzung dessen, was war, und der Akzeptanz, dass Veränderung ein natürlicher Teil des Lebens ist.

In manchen Fällen mag das Festhalten ein Zeichen von Stärke sein – ein Beweis dafür, dass Beziehungen Tiefgang und Dauerhaftigkeit haben können, selbst wenn sie auf die Probe gestellt werden. Es zeigt, dass Liebe, in all ihren Formen, die Kraft hat, Herausforderungen zu überstehen.

Dennoch ist es entscheidend, sich bewusst zu machen, dass das Festhalten nicht zu Lasten des eigenen Wohlbefindens oder der persönlichen Entwicklung gehen sollte. Eine selbstreflektierte Betrachtung der eigenen Bedürfnisse und Grenzen ist unerlässlich, um zu entscheiden, ob das Festhalten die richtige Entscheidung ist.

Letztendlich ist die Entscheidung, ob man loslässt oder festhält, eine zutiefst persönliche. Sie erfordert Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und ein offenes Herz, um zu erkennen, was für die eigene Reise das Beste ist. Hören Sie auf das, was Ihnen Ihre innere Stimme sagt!


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