Gedichte schreiben lernen

Gedichte schreiben lernen – das ist kein Hexenwerk

von Leonie Ranly

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Gedichte selbst schreiben bzw. Gedichte schreiben lernen ist kein Hexenwerk. Der Begriff „Gedicht“ ist einer jener Begriffe, unter denen sich zwar quasi jeder etwas vorstellen kann, die aber so gut wie niemand zufriedenstellend zu definieren vermag. Für viele ist „Gedicht“ synonym für einen Text, der sich reimt – aber wir alle wissen, dass es auch Gedichte gibt, die über gar keine Reime verfügen. Was also ist ein Gedicht eigentlich (und was ist keines)?


Was ist ein Gedicht?

Einen entscheidenden Anhaltspunkt dafür, was ein Gedicht ist, bietet uns das Wort selbst: In „Gedicht“ steckt der Wortstamm „dicht“. Gedichte sind, sehr simpel ausgedrückt, nichts anderes als verdichtete Sprache. In anderen Worten: Sprache, die auf eine kreative, kunstvolle Weise zu einem (zumindest der Meinung der Verfasserinnen und Verfasser nach) formvollendeten Werk zusammengefügt wurde, da eine bestimmte Intention ausdrücken soll.

Das ist nun freilich eine eher unhandliche Definition, denn man kann lange darüber streiten, ob ein bestimmter Text hiernach nun ein Gedicht sei oder nicht. Konkreter ist da das objektive Entscheidungskriterium, ob der Text über einzelne Verse verfügt. „Vers“ ist die literarische Bezeichnung für eine „Zeile“ im Gedicht; eine klar definierte, kurze Einheit Sprache, deren Anfang und Ende von der Person bestimmt wurden, die das Gedicht geschrieben hat.

Nicht immer ist die Verseinteilung auf den ersten Blick sichtbar. Viele Kulturen, beispielsweise die Römer:innen der Antike oder die japanischen Adligen der Heian-Periode, haben ihre Vers-Enden nicht unbedingt mit Zeilenenden zusammenfallen lassen und (wohl aus Platzgründen) mitunter, wie bei einem Fließtext, die ganze Seite vollgeschrieben. Dennoch sind auch bei diesen Gedichten aufgrund ihrer fest reglementierten metrischen Struktur einzelne Verse voneinander unterscheidbar: für literarische Expert:innen auf analytischem Wege, für Muttersprachler:innen durch den natürlichen Rhythmus der Sprache und das intuitive Sprachgefühl. Selbst die weltberühmten Dramen William Shakespeares verfügen zwar nur sporadisch über Reime, aber kontinuierlich über Metrum und Verseinteilung, sodass auch sie, streng genommen, eine Art Gedicht sind. (Mehr über das Metrum eines Gedichts erfahren Sie weiter unten.)

Doch genug der theoretischen Betrachtungen! Wer ein Gedicht erschaffen will, braucht kein Lexikon-Wissen, sondern Kreativität und Inspiration – und vielleicht den einen oder anderen praktischen Hinweis. Erstere müssen aus Ihnen selbst entspringen – die handwerklichen Feinheiten der Lyrik erklären wir Ihnen in den folgenden Abschnitten.


Gedichte sind Kunst

Gedichte sind Kunst, und Kunst ist frei. Auch Sie genießen beim Verfassen eines Gedichts Freiheiten, die Ihnen die deutschen Rechtschreibregeln in anderen Kontexten nicht geben. Vielleicht lässt sich das ein wenig mit der Malerei vergleichen: Es gibt keine violetten Katzen oder fliegenden Bäume, aber dem oder der Kunstschaffenden steht es frei, diese Unmöglichkeiten trotzdem Teil des Werks werden zu lassen.

Gedichte schreiben lernen - das ist kein Hexenwerk

Gedichte schreiben lernen – nach Ihren eigenen Regeln

Wenn Sie ein Gedicht schreiben, können Sie Verseinteilung, Zeichensetzung, Groß- und Kleinschreibung, Schreibweise einzelner Worte sowie die Regeln für Grammatik und Wortbildung theoretisch frei bestimmen. Natürlich dürfen Sie es dabei nicht übertreiben, wenn Sie möchten, dass Ihr Gedicht am Ende von anderen verstanden werden kann – aber, und das ist wichtig, es gibt im Reich der Gedichte kein „richtig“ und kein „falsch“. Wichtig ist nur, dass Sie keine Willkürlichkeit walten lassen und sich an die Sprachregeln halten, die Sie für Ihr Gedicht aufgestellt haben, denn ohne jegliche Regeln ist Sprache nur eine zufällige, bedeutungslose Ansammlung von Lauten.

Im Klartext heißt das zum Beispiel: Sie können jeden Vers Ihres Gedichts, unabhängig von Interpunktion, mit einem Großbuchstaben beginnen, wenn Sie das möchten – aber dann sollten Sie das auch das ganze Gedicht hindurch beibehalten.


Kreative Neuschöpfungen erfinden

Ein ganz besonderes Stilmittel der Dichtkunst ist übrigens ein sogenannter Neologismus („Wortneuschöpfung“). Hierbei wird für das Gedicht ein neues, zuvor nicht existierendes Wort erschaffen, oft auf der Grundlage bereits bestehender Wörter und Wort-Teile, sodass Sprecher:innen der Sprache die Bedeutung des neuen Wortes direkt begreifen können. Statt einzelner Wörter können auch ganze Ausdrücke und Redewendungen neu geschaffen werden. Wenn Ihnen also mal kein passender Ausdruck einfallen sollte, dann erfinden Sie doch einfach einen!


Das Metrum – ein Betonungsmuster

Wie kein anderes Merkmal unterscheidet das Metrum Gedichte von Nicht-Gedichten. Zugleich ist das Metrum aber auch eines der abstraktesten Gedicht-Charakteristika, das zu verstehen oder gar zu analysieren vielen Menschen sehr schwerfällt.

In der Musik ist ein Metrum ein mechanischer Taktgeber. Sprachwissenschaftlich ist die Bedeutung des Wortes eine ganz ähnliche: Kurz gesagt ist das Metrum nichts anderes als der natürliche Sprach-Rhythmus. Diesen Rhythmus hat Sprache immer, wenn er auch nicht immer so gleichmäßig ist wie ein Rhythmus in der Musik; er ergibt sich durch die automatische Betonung bestimmter Silben beim Sprechen. Europäische Sprachen erzeugen Betonung, indem die betonten Silben messbar länger, lauter und deutlicher ausgesprochen werden als unbetonte. (Eine andere Methode, um Betonung zu erzeugen, ist zum Beispiel die Tonhöhe – die Methode setzen viele asiatische Sprachen ein.)


Beispiele für die verschiedenen Metren

In Gedichten wird dieses Metrum (also das Betonungsmuster) durch eine gezielte Wortwahl meist in einen regelmäßigen Rhythmus gebracht, der den Ohren schmeichelt und dazu einlädt, Gedichte musikalisch zu vertonen. Im deutschen Sprachraum entspricht dieser Rhythmus meistens einem der folgenden Muster:

  • Jambus: auf eine unbetonte Silbe folgt eine betonte Silbe, z. B. „Du musst das Leben nicht verstehen“
  • Trochäus: auf eine betonte Silbe folgt eine unbetonte Silbe, z. B. „Alle Menschen sollst du lieben“
  • Daktylus: auf eine betonte Silbe folgen zwei unbetonte Silben, z. B. „Mein sind die Jahre nicht“
  • Anapäst: auf zwei unbetonte Silben folgt eine betonte Silbe, z. B. „Und es wallet und siedet und brauset und zischt

Das Metrum eines Gedichts wird offenbar, wenn man es absichtlich leiernd vorliest. Verschiedene Metren können verschiedene Wirkungen auf das Publikum haben – Jambus und Trochäus wirken meist dynamischer und rhythmischer, während Daktylus und Anapäst eine leichtere und verspieltere Atmosphäre erzeugen können.

Nicht immer muss das ganze Gedicht demselben Metrum folgen; viele Dichter:innen brechen den metrischen Rhythmus ihres Gedichts bewusst an gewissen Stellen wie Höhe- oder Wendepunkten, um ihre Zuhörer:innen „aus dem Tritt“ zu bringen und die entsprechenden Verse hervorzuheben.


Bedeutung des Metrums für Ihre Gedichte

Welche Bedeutung hat das Metrum für Sie als Dichterin bzw. Dichter? Da das Dichten eine Kunst ist, müssen Sie dabei natürlich nicht linguistisch vorgehen und das Betonungsmuster Ihres Werks bis ins Detail analysieren; Sie müssen über das Metrum nicht einmal explizit nachdenken, da Sie es wahrscheinlich bereits intuitiv beachten.

Dennoch sollten Sie wissen, dass Gedichte einen metrischen Rhythmus haben, um verstehen zu können, weshalb manche Verse trotz der richtigen Silbenzahl künstlich und gezwungen klingen können – und um eine Idee zu gewinnen, was Sie tun können, um diese Verse metrisch zu verbessern. (Normalerweise hilft es bereits, eine mehr mit dem Metrum übereinstimmende Formulierung zu finden, nach Synonymen zu suchen und ggf. einzelne Silben durch Apostrophe auszulassen, zum Beispiel „Ich werd‘ es versteh’n“ statt „Ich werde es verstehen“.


Reim dich, oder ich fress dich

Gut zu reimen ist ein Handwerk, das nicht jeder kann. Für viele Dichterinnen und Dichter ist das eine große Hürde, die sie davon abhält, die Gedichte zu schreiben, die sie gerne schreiben würden. Die gute Nachricht: wie andere Handwerke auch, lässt sich das Reimen lernen.

Linguistisch betrachtet reimen sich zwei Worte dann, wenn ihre Endungen gleich klingen (auch, wenn sie unterschiedlich geschrieben werden). Genauer gesagt: die Worte müssen ab dem Vokal der letzten, betonten Silbe gleich lauten. Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich recht simpel.

Das Wort „erreicht“ reimt sich auf „begleicht“ – beide Worte werden auf der zweiten Silbe betont und diese ist bis auf Ihre Anfangskonsonanten identisch (-eicht). Die Worte „Tafel“ und „Schwefel“ hingegen reimen sich nicht; sie haben zwar eine identische letzte Silbe (-fel), doch diese ist unbetont, sodass die letzte betonte Silbe, Ta- bzw. Schwe-, auch Teil des Reims sein muss. Auf „Tafel“ würde sich allerdings „Geschwafel“ reimen, und auf „Schwefel“ (wenn auch leicht unsauber) das Wort „Gefel“.


Saubere und unsaubere Reime

Apropos: Von unsauberen Reimen spricht man, wenn zwei Worte ab dem Vokal ihrer letzten betonten Silbe nicht perfekt gleich, aber doch ähnlich genug klingen, um als Reim wahrgenommen zu werden. Beispiele hierfür sind, unter vielen anderen:

  • das Wortpaar „kriegen“ und „gen“
  • das Wortpaar „Wein“ und „scheint
  • das Wortpaar „Kamm“ und „nahm
  • das Wortpaar „loben“ und „betrogen“

Saubere Reime lassen sich oft gut finden, indem man den oder die Anfangskonsonanten eines Wortes austauscht, zum Beispiel:

  • Reise, leise, Meise, Speise, Weise, Greise, Gleise, usw.
  • Schaum, Baum, Raum, kaum, Traum, usw.

Ansonsten helfen im Zweifelsfall Reim-Wörterbücher wie beispielsweise auf reimsuche.de oder d-rhyme.de und viele andere mehr, um einen passenden Reim auf ein bestimmtes Wort zu finden.


Verschiedene Reimschemata

Doch was soll sich im Gedichte eigentlich worauf reimen? In der deutschsprachigen Dichtung sind Reime am Versende üblich (nur gelegentlich tauchen auch Reime innerhalb von Versen auf). Dabei sind verschiedene Schemata möglich, welcher Vers sich mit welchem anderen Vers reimt. Solche Reimschemata werden mit Kleinbuchstaben verdeutlicht, wobei derselbe Kleinbuchstabe für alle sich reimenden Verse steht.

  • Beim Paarreim (aabb) reimen sich jeweils zwei aufeinanderfolgende Verse.
  • Beim Kreuzreim (abab) reimt sich jeder Vers auf seinen Vor-Vorgänger. Manchmal reimen sich nur der zweite und vierte, nicht aber der erste und dritte Vers (abcb).
  • Beim umarmenden Reim (abba) wird ein Paarreim von zwei sich reimenden Versen eingerahmt.

Selbstverständlich gibt es noch unzählige andere Reimschemata, denen ein Gedicht theoretisch folgen kann. Auf ein bewusster Wechsel des Reimschemas im Verlauf des Gedichts ist möglich. Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.


Trauen Sie sich!

Ob Sie gerne klassische Sonette oder lieber moderne Gedichte in freier Form schreiben wollen – wir möchten Sie gerne dazu ermutigen, sich zu trauen und kreativ zu werden. Wie bei allen Künsten ist es die Übung, die einen Dichter oder eine Dichterin zum Meister macht. Und, wie bei allen Künsten, geht es auch beim Dichten nicht um Perfektion, sondern darum, sich mitzuteilen.

Nehmen Sie sich Papier und Stift und legen Sie los!


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