Ein Interview von Betina Graf mit Dr. Martin Kreuels.
Eine alte Tradition: das letzte Foto für die Angehörigen, Post mortem-Fotografie genannt. Früher war es üblich, ein letztes Bild von einem geliebten Menschen zu machen, der verstorben ist. Dr. Martin Kreuels greift diese alte Tradition auf und belebt sie mit seinen pietätvollen Fotografien wieder neu. Mit Beispielen seines Talentes, den Verstorbenen auf dem Foto in ein ganz besonderes, würdevolles Licht zu setzen.
Post mortem-Fotografie – wie es dazu kam
Foto: © Dr. Martin Kreuels
Viabilia: Welche Rolle spielt die Post mortem-Fotografie in Ihrem Leben? Hatten Sie mit dieser besonderen Art der Fotografie nach dem Tod Ihrer Frau begonnen, oder vorher schon?
Dr. Martin Kreuels: Mein zweitjüngster Sohn hatte die Idee, als seine Mutter in der Nacht gestorben war. Sie lag im Wohnzimmer. Mein Sohn war damals sechs Jahre alt. Er kam die Treppe herunter und sagte: “Ich mache von Mama ein Foto, sie ist ja gleich weg.”
Ich habe ihn das Foto machen lassen, und habe darüber erst einmal nicht nachgedacht. Nachdem die Beerdigung vorbei war, recherchierte ich zu diesem Thema: warum er das gemacht hat, was hier psychologisch dahintersteckt. Mich hat dies zunächst als Wissenschaftler interessiert.
Ich habe festgestellt: Es gibt viele Bücher zu diesem Thema – aber nur alte Bücher. Die Post mortem-Fotografie ist verloren gegangen. Früher war es Pflicht, von den Verstorbenen ein Foto zu machen.
Dann habe ich meinen Kindern alle Fotos, die ich von ihrer Mutter hatte, zur Verfügung gestellt. Das waren tausend Bilder. Die Kinder haben sich das letzte Foto angeschaut, wo sie tot ist, nicht die Bilder, als sie noch gelebt hatte.
Viabilia: Was hat Ihr Sohn fotografiert?
Dr. Martin Kreuels: Er hat das ganze Gesicht seiner Mutter fotografiert. Das war in Ordnung. Meine Frau sah sehr entspannt aus, als sie gestorben war. Man hätte also nicht zwingend nur einen Ausschnitt fotografieren müssen. Er hat aus kindlicher Intuition heraus gehandelt.
Auch hier habe ich Psychologen gefragt: Warum machen die Kinder das? Die Antwort lautete: Sie konfrontieren sich mit dem Tod ihrer Mutter, weil der Tod für sie dann real wird. Das ist wie eine Art Therapie.
Foto: © Dr. Martin Kreuels
Den Brauch der Post mortem-Fotografie wieder aufleben lassen
Dann habe ich meine Bestatterin gefragt, was sie davon hält, diesen alten Brauch wieder aufleben zu lassen. Wir könnten eine gute, alte Tradition neu ins Leben rufen.
In der Praxis haben die Menschen Angst davor.
Foto: © Dr. Martin Kreuels
Viabilia: Müssen die Frauen und Männer, wenn sie noch leben, ihr Einverständnis für die Post mortem-Fotografie geben?
Dr. Martin Kreuels: Nein. Da ist eher der Egoismus der Angehörigen gefragt. Das Bild kann dem Angehörigen helfen. Also hat der Angehörige ein Recht darauf. Ich finde es ganz wichtig, dass wir im Sterbeprozess nicht immer nur den Sterbenden betrachten, sondern auch die Person, die zurück bleibt. Die Person, die tot ist, die ist gegangen. Diejenigen, die zurückbleiben, die leben im Unglück, die müssen mit ihrer Trauer leben lernen. D. h. die Angehörigen müssen eine geeignete Hilfe an die Hand bekommen.
Sie haben das Recht dazu. Wenn sie Hilfe brauchen, dann dürfen sie danach handeln, denn sie sind es, die in ihrem Leben mit dem Verlust klar kommen müssen.
Viabilia: Bei Ihren Post mortem-Bildern wird oft nicht das Gesicht als Ganzes fotografiert. Ist das tatsächlich so, oder sind dies ausgewählte Beispiele, die wir hier auf dieser Seite sehen dürfen?
Dr. Martin Kreuels: Das ist tatsächlich so, weil ich das gar nicht für notwendig erachte, das ganze Gesicht zu fotografieren. Manchmal hat ein toter Mensch im Gesicht einen etwas gequälten Ausdruck, oder Verletzungen aufgrund von Chemotherapie, wenn er bzw. sie Krebs hatte. Dann ändert sich ein Gesicht farblich.
Ein ansprechendes Foto, das gerne angeschaut wird
Mir geht es darum, ein Bild zu machen, was nicht abschreckend ist. Manchmal ist es dann nur noch ein Ausschnitt aus dem Gesicht, der ansprechend ist; dann muss dieser Ausschnitt reichen. Ich mache die Post mortem-Bilder grundsätzlich in schwarz-weiß. Das Bild muss so sein, dass die Angehörigen sich das gerne anschauen.
Es geht nicht um Voyerismus, es geht nicht um Dokumentation, sondern es geht darum, ein Bild zu schaffen, was man sich gerne anschaut und sich vielleicht ins Zimmer hängt, weil es einfach schön ist, das letzte Bild von seinem geliebten Menschen anzusehen.
Viabilia: Ihre Bilder strahlen etwas ganz Besonderes aus. Inwieweit ist es notwendig, die verstorbenen Personen persönlich zu kennen, um sie richtig ins Bild zu rücken?
Foto: © Dr. Martin Kreuels
Dr. Martin Kreuels: Ich kenne die Verstorbenen nicht. Die Vorgehensweise ist folgendermaßen: die Beauftragung erfolgt über die Bestatterin Angela Thieme. Die Bestatterin selbst vermittelt eine große persönliche Wärme. Wenn ich dann zum Fotografieren gerufen werde, ist sie immer dabei. Sie erzählt mir von dem Verstorbenen. Ich muss erst eine Weile um den Toten herumgehen.
Fotos: © Dr. Martin Kreuels
Ich berühre ihn nicht, und ich verändere ihn nicht. Ich will einen Winkel finden, wo der bzw. die Verstorbene attraktiv aussieht. In der Zeit des Betrachtens erzählt mir die Bestatterin über die verstorbene Person: wie sie gestorben ist, was sie gemacht hat in ihrem Leben. Das zeigt sich zum Beispiel an den Händen. Es gibt Akademikerhände und Hände, mit denen gearbeitet worden ist, wo der Verstorbene zum Beispiel Bauer war. Das kann man wunderbar darstellen.
Vielen Dank für dieses spannende Interview und die beeindruckenden Bilder!
Dr. Martin Kreuels war bis 2009 Biologe, genauer Arachnologe. Nach dem Tod seiner Frau begann seine Neuorientierung als Autor und Fotograf. Seit 2018 hat er sich umorientiert und arbeitet wieder an erster Stelle in seinem ursprünglichen Fachgebiet im Naturschutz.