Grabkerze als Symbol für Trauer bei Männern

Männer trauern anders

von Betina Graf

Grabkerze als Symbol für Trauer bei Männern

Interview mit Dr. Martin Kreuels zum Thema Männer trauern anders. Die Trauer von Männern, wenn ein geliebter Mensch stirbt: ein Tabu-Thema? Dr. Martin Kreuels macht Männern Mut, die eigene Trauer nicht zu verdrängen oder totzuschweigen, sondern sich mit ihr zu beschäftigen, damit sie ein guter Bestandteils des eigenen Lebens werden kann.


Im Trauercafé

Viabilia: Sie haben ein Buch zum Thema Männer trauern anders geschrieben. Das hat mich jetzt etwas überrascht, weil ich dachte, wir Menschen trauern alle gleich. Und die Intensität der Trauer hängt dann eher davon ab, wie tief wir Menschen mit jemanden verbunden sind, aber weniger vom Geschlecht her gesehen. Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass Männer anders trauern als Frauen?

Bild: Männer trauern anders

Foto: © Dr. Martin Kreuels

Dr. Kreuels: Man sieht es zum Beispiel in unserem Trauercafé: dort sind 16 Damen und 4 Herren. Oder bei den Büchern, diese sind hauptsächlich von Frauen geschrieben. Wenn ich Psychologen anspreche und frage: ‚Wie kommen Männer zu Euch?‘, dann sagen sie: ‚Männer kommen gar nicht.‘ Männer können nicht reden, sie haben das nicht gelernt. Ich gehe hierbei vom Gros der Männer aus, von wenigen Ausnahmen abgesehen: Männer haben aufgrund ihrer Erziehung nicht gelernt, über Trauer, über Gefühle zu sprechen.

um Beispiel hört ein Junge, der vom Fahrrad fällt, Worte wie zum Beispiel: ‚Steig‘ wieder auf, ein Indianer kennt keinen Schmerz.‘ Ein Mädchen darf weinen. Sie wird in Watte gepackt – ohne das zu bewerten -, sie darf heulen, sie darf schreien, bis der Schmerz weggeht. Ein Junge wird sofort gesagt: ‚Komm‘, egal.‘

Das zieht sich durch.


Von der Evolution her betrachtet

Man kann dies ebenso aus der Evolution heraus betrachen. Männer sind diejenigen, die mehr schweigen, Frauen sind die Kommunikativeren. Wenn wir jetzt ganz weit zurückgehen: Als der Mensch noch auf der Jagd war: wenn der Jäger geredet hätte in der Gruppe, wäre das Wild weg gewesen. Der Mann muss also „die Klappe halten, damit er an das Tier kommt“. Die Frau sitzt zuhause, hat die Kinder um sich herum, und ist permanent in der Kommunikation.

Als dann die Menschen seßhaft wurden, hat der Mann den Acker bestellt – wieder alleine -, die Frau war im Haus, die Familie, die Kinder wieder um sich. Das haben wir Menschen über die vielen Jahrhunderttausende hinweg so gelernt, dass wir Männer stiller sind als die Frauen.

Die Frauen können – das kann man neurophysiologisch nachweisen – mit beiden Gehirnhälften reden. Die Männer können nur “mit links” reden.

Viabilia: Das Gehirn ist ja sehr flexibel und hat sehr viele Potenziale. Professor Dr. Dr. Hüther sagt ja zum Beispiel, dass ein Gehirn enorm viele Nutzungspotenziale hat. Je nachdem, was im Gehirn genutzt wird, wird stärker ausgeprägt, und was nicht genutzt wird, fällt weg. Wenn also Männer anders erzogen werden würden, könnten sie mehr Potenziale nutzen wie beispielsweise die Fähigkeit, über Gefühle zu reden?

Dr. Kreuels: Ich glaube das eingeschränkt. Es gibt ja dieses Verbindungsstück zwischen den beiden Gehirnhälften, das bei Frauen viel dicker ausgeprägt ist als bei uns Männern. Bei Männern ist morphologisch ein anderer Aufbau, den kann man nicht ad hoc verändern, dieser entwickelt sich über viele Jahrhunderttausende; jedenfalls ist er nicht in Form von einer Erziehungsperiode änderbar.

Wenn ich jetzt wieder zurück zu unserer Trauer komme, stellt das eine Grundlage dar, wo ich merke: Männer tun sich einfach schwer, über ihre Gefühle der Trauer zu sprechen. Bei der Kommunikation von Gefühlen stecken Gedanken wie:

  • ‚Ich werde angreifbar.‘
  • ‚Ich habe Trauer nicht unter Kontrolle.‘

Ein Mann versucht in einer Stresssituation, die Familie zusammenzuhalten, während die Frau sich fallen lässt. Zum Beispiel beim Tod eines Kindes: die Frau lässt sich fallen, will nicht mehr weiterleben. Der Mann rutscht sofort in die Rolle, alles zusammenzuhalten. Das ist ein klassisches Verhalten von uns Männern. Die Frauen leben ihre Trauer aus, während die Männer mehr oder weniger herunterschlucken, sich durch Aktivitäten ablenken oder in ein Suchtverhalten geraten, weil sich nicht darüber reden können: sie fangen an zu trinken, werden spielsüchtig, flüchten sich in sportliche Aktivitäten … sie kompensieren ihre Trauer durch andere Aktivitäten und Ablenkungen.

Viabilia: Geht die Trauer dadurch dann weg? Also mit der Zeit, wenn man das durch andere Aktivitäten kompensiert. Es klingt für mich nun so, als ob man Trauer nur dadurch bewältigen könnte, indem man sie rauslässt; indem man weint und mit anderen über seine Trauer redet. Dann würde sie irgendwann weggehen. Wenn jetzt zum Beispiel ein Mann die Trauer durch Sport kompensiert, oder durch Arbeit: Geht dann die Trauer auch auf diese Art und Weise weg? Ist das ein echter Ersatz?

Dr. Kreuels: Nein, keinesfalls. Das ist nur eine Kompensation, um eben darüber nicht nachdenken zu müssen. Trauer an sich geht ja nicht weg. Trauer verändert sich. Trauer wird aushaltbarer. Sie wird so „umgebaut“ im Menschen, dass man damit leben kann. Die Trauer wird in das eigene Leben integriert, dass nicht mehr dieses Schwere, dieses Verzweifelte vorherrscht. Man akzeptiert und macht den Trauerfall zu einem Teil von seinem Leben.

Die Trauer am Anfang ist etwas, was uns Menschen „zuschwemmt“ , und wir eigentlich nicht handlungsfähig sind. Die Trauer verwandelt sich dann in etwas, womit man leben kann; aber sie bleibt. Der Mann kommt aus dieser Nummer ganz schlecht wieder heraus: er kann die Trauer wegdrängen, aber er kann sie auf diese Weise nicht transformieren.


Wie trauern auch für Männer gelingen kann

Ein Mann trauert

Foto: © Dr. Martin Kreuels

Viabilia: Und wenn diese sportlichen Aktivitäten wegfallen, oder der Mann beschließt, der traurigen Situation doch ins Auge zu sehen. Dann müsste ja – wenn Sie sagen, die Trauer geht nicht weg und verändert sich sogar nicht – die Trauer immer noch in der gleichen Schwere und Verzweiflung da sein; nur dass sie dem Mann nicht bewusst wird, weil er zum Beispiel in seinem Sport aufgeht. Aber es wäre trotzdem alles noch da?

Dr. Kreuels: Ja, so ist es auch. Deshalb geht man heute davon aus, dass dies einer der Gründe ist, weshalb Männer eine geringere Lebenserwartung haben.

Viabilia: Kann sich dies dann in körperlichen Symptomen niederschlagen?

Dr. Kreuels: Ja, in Krankheiten, Depressionen, Suchtkrankheiten, die Folgeschäden zeitigen … all diese Faktoren können zu einer geringeren Lebenserwartung führen.

Ich habe kürzlich mit einem Mann über seine Trauer gesprochen – eigentlich wegen meines neuen Buches, an dem ich gerade schreibe. Er fing an zu reden, sechs Stunden lang. Nach diesen sechs Stunden meinte er: “Meine Frau ist jetzt 18 Jahre tot. Sie sind der Erste, dem ich das erzählt habe.” Er hat eine Partnerin, mit der er zusammen ist, aber er war nicht in der Lage, mit ihr darüber zu sprechen. 18 Jahre lang.

Ich fragte ihn, wie er so lange damit leben konnte. Er antwortete, dass er sich die ganze Zeit schlecht gefühlt habe. Er hat nur auf diesen Tag gewartet, seine Geschichte erzählen zu können. Dadurch ist er ein Stück seiner Last los geworden, er hat sie für sich etwas verändern können.

Eine Frau bei uns im Trauercafé hatte ein ähnliches Problem: Sie ist ein Jahr ins Trauercafé gekommen, hat ein Jahr über ihre Trauersituation geredet. Sie hat von zwei Stunden eine Stunde alleine gefüllt. Ein Jahr lang. Nach einem Jahr sagte sie: “So, jetzt bin ich durch, jetzt brauche ich das nicht mehr.” Sie hat sich in diesem einen Jahr ihre Trauer “von der Seele geredet”.

Sie brauchte diesen Treffpunkt, wo sie wusste: “da kann ich reden, und alle verstehen, was ich habe; da kann ich ein Stück weit loswerden”.

Bei einer Frau ist es normal, dass sie über ihre Trauer sprechen kann; beim Mann wird das nicht als normal angesehen.

Viabilia: Das bedeutet im Prinzip: es gibt ja immer Situationen, wo man als Mann zu trauern hat; das muss ja nicht immer der Tod eines geliebten Menschen sein. Das kann ja auch verlassen werden sein, gemeinsames Gehen, oder wenn ein Freund oder eine Freundin wegzieht; das zieht sich im Prinzip durch.

Dr. Kreuels: Ja, das zieht sich durch. Die Männer, die ich für mein Buch interviewe, sind aus diesen unterschiedlichen Kategorien. Es geht nicht immer darum, dass sie ihre Frau verloren haben. Ein Mann hatte vor 30 Jahren seinen Vater verloren, ein anderer Mann hatte eine Scheidung hinter sich. Völlig unterschiedliche Trauersituationen.

Viabilia: Wie sind die Männer auf Sie aufmerksam geworden? Weil es sie selber angefangen hat zu stören? Denn wenn man sich – als Betroffener – mit Ihnen in ein Interview begibt, dann verhält es sich so, dass man eine gewisse Aufmerksamkeit sich selber gegenüber hat, um zu merken – Moment mal, da stimmt etwas nicht.

Trauern lernen

Foto: © Dr. Martin Kreuels

Dr. Kreuels: Es ist meistens so, dass sie angesprochen worden sind. “Ich hab’ gehört, da ist einer, der schreibt ein Buch über dein Thema. Willst du dich nicht mit dem in Verbindung setzen?” Die wenigsten Männer kommen direkt, also über Presse oder Fernsehen, zu mir. Sie werden von Freunden angesprochen und aufgefordert, zu mir zu gehen.

Viabilia: Die Konsequenz ist die, dass Sie sagen, dass Männer gar nicht trauern können?

Dr. Kreuels: Doch, sie können schon trauern. Sie tun sich schwerer, insbesondere in der Kommunikation.

Viabilia: Wie würden Männer optimal trauern?

Dr. Kreuels: Ich weiß nicht, ob es ein “optimales” Trauern gibt, sozusagen einen Königsweg des Trauerns; jeder trauert für sich anders.

Wichtig ist, dass ein Mann
seine Trauer äußern kann,
dass er einen Gesprächspartner hat.
Dann ist es einfacher für ihn,
mit seiner Trauer umzugehen,
als wenn der Mann versucht,
seine Trauer tot zu schweigen
und damit zu verdrängen.
Das ist der entscheidende Punkt.

Dr. Martin Kreuels

Viabilia: Wenn man sagt, Männer sind beim Trauern anders gestrickt als Frauen, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Männer das gar nicht nötig haben, über die Trauer zu sprechen – eben weil sie anders “konstruiert” sind.

Dr. Kreuels: Dann haben Sie die negativen Auswirkungen wie das beschriebene Suchtverhalten, etc.

Viabilia: An der Art der darauffolgenden Bewältigung würde man erkennen, ob ein Mann das schafft, sich wirklich für die Trauer zu öffnen oder nicht.

Dr. Kreuels: Ja, genau.

Viabilia: Also darüber sprechen mit einer vertrauten Person, wäre jetzt ein Punkt, der notwendig ist für die Bewältigung der Trauer?

Dr. Kreuels: Auf jeden Fall sehr hilfreich, ja. Das macht viele Sachen einfacher, wenn man darüber sprechen kann. Die Gespräche zwischen Männern sind hier sehr kurz. Die Gespräche, die ich mit den Frauen führe, sind ausführlich und emotional. Ich glaube kaum, dass ein Trauergespräch zwischen zwei Männern mit dieser Emotionalität ablaufen wird. Selten.

Viabilia: Kurz und faktenorientiert. Und trotzdem hilft das?

Dr. Kreuels: Ja, trotzdem hilft das.

Viabilia: Was gehört noch dazu, um die eigene Trauer zu bewältigen?

Dr. Kreuels: Die Akzeptanz, dass man selbst in dieser Trauer ist. Der Mann muss sich mit seiner Trauer akzeptieren, also erkennen “ich trauere jetzt gerade”. Wenn der Mann schlecht drauf ist, miese Laune hat, all das ist Teil seiner Trauer. Zu akzeptieren, dass der Mann als Mann nicht immer nur stark ist. Dass man schwache Seiten hat und diese leben darf.

Auf sein Bauchgefühl zu achen und zum Beispiel zu merken: ach, heute tut es mir gut, Fahrrad zu fahren, an die Frische Luft zu gehen.

Viabilia: Und weinen?

Dr. Kreuels: Ja, klar. Aber lassen Sie einmal einen Mann in der Öffentlichkeit weinen. Das ist ein komisches Bild, das wir nicht im Kopf haben.

Oder ein anderes Beispiel: zwei Teenager, die sich in der Stadt an den Händen halten. Da sagt kein Mensch etwas. Bei zwei Jungen, die händchenhaltend durch die Straßen gehen, sagen die Leute: “die sind schwul”. Die Sichtweisen sind völlig unterschiedlich.

Mädchen dürfen ihre Gefühle zulassen und ausleben, die Jungen würden sofort in eine Schublade gesteckt mit der Frage: “Wie ist der denn drauf?”

Schwarzweiß-Fotografie mit zwei Menschen

Foto: © Dr. Martin Kreuels


Trauerbewältigung durch „Nachfolge-Tod“?

Was bedeutet es, wenn der Partner “hinterherstirbt”? Im Folgenden geht es um das Faktum, dass manchmal – gerade bei älteren Damen und Herren, der Partner bzw. die Partnerin ihren verstorbenen Ehemann bzw. die verstorbene Ehefrau nicht lange überlebt:

Viabilia: Sie haben am Anfang darauf hingewiesen, dass sich die Trauer verändert. Gibt es bestimmte Phasen der Trauer, die man festmachen kann?

Dr. Kreuels: Das wird in der Literatur oft beschrieben. Ich halte das jedoch für gefährlich. Entwicklungsphasen der Trauer. Manche Menschen bleiben bei einem Punkt der Trauer stehen und kommen nie raus.

Wenn man sich beispielsweise die Todesanzeigen gerade bei älteren Menschen anschaut, wo der Partner kurze Zeit danach “hinterherstirbt”.

Viabilia: Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Dr. Kreuels: Ich würde sagen: Partner wachsen im Laufe eines Lebens zusammen. Wenn ein Partner stirbt, stirbt ein Teil von einem selber mit. Und wenn dieser Teil ganz groß ist, ist man ohne Hilfe nicht mehr alleine lebensfähig.

Im Normalfall würde der Teil, der abgestorben ist, durch eine Krücke ersetzt werden. Dann geht das Leben weiter; es läuft nicht mehr so rund wie vorher, aber es geht weiter. Ich glaube, gerade ältere Herrschaften bilden so eine Einheit, dass der zurückgebliebene Partner “hinterherstirbt”.

Viabilia: Ist das dann nicht ein schlechtes Zeichen für eine Partnerschaft, wenn der eine ohne den anderen nicht mehr leben kann?

Dr. Kreuels: Das würde eine Bewertung sein. Ich würde das nicht als gut oder schlecht bewerten, sondern als Faktum an sich darstellen.

Viabilia: Wenn man jetzt davon ausgeht, dass man als heiler Mensch aus seiner Trauer herauskommen will, muss es nicht dann einen Punkt geben, wo man sagt: “Ok, ich will jetzt weiterleben, mit der ganzen Fülle, die dieses Leben zu bieten hat”?

Dr. Kreuels: Da muss man das Alte loslassen, anders geht das nicht.


Männer trauern anders – neu anfangen

Blume mit rosa Blüten

Foto: © Dr. Martin Kreuels

Neuorientierung nach dem Tod des Partners bzw. der Partnerin:

Viabilia: Wie haben Sie es geschafft, zu Ihrer eigenen Form der Trauer zu kommen und sich neu zu orientieren?

Dr. Kreuels: Nach dem Tod meiner Frau verhielt es sich so: ich bin ja eigentlich promovierter Biologe mit einem eigenen, kleinen Unternehmen. Was habe ich gemacht? Ich habe ganz von neu angefangen. Ich konnte nicht als Biologe weiterarbeiten.

Es war immer alles gerade in meinem Leben: Abitur, Studium, Promotion, die eigene Firma. Familie, Kinder bekommen. Alles gerade. Dann starb meine Frau, und ich musste feststellen: ich kann mit diesen Zahlen und Fakten nichts mehr anfangen. Ich muss etwas völlig Neues machen. Ich muss etwas machen, was mit meinen Gefühlen zu tun hat. Das hatte ich vorher gar nicht gesehen. Ich komme aus dieser Zahlen-Fakten-Nummer nur dann heraus, wenn ich etwas mache, was ich nur aus meinem Bauch heraus mache.

Ich habe das mit meinen Kindern abgesprochen. Ich habe ihnen gesagt, wir ändern jetzt alles. So bin ich Autor und Fotograf geworden.

Meine Frau hat meine erste Ausstellung zwei Tage überlebt. Sie hat gesagt: “Irgendwas ist in Deinen Bildern drin.” Die Menschen, die meine Bilder sehen, sagen: “Irgendwie sind die Bilder anders.”

Viabilia: Ihre Post mortem-Bilder sind beeindruckend, sie haben so etwas Tiefes, Pietätvolles. Ich finde sie ganz berührend.

Dr. Kreuels: Ich denke, da ist irgendwas drin, was ich selbst nicht steuern kann, aber was offensichtlich ein Bestandteil ist. Es ist wahrscheinlich genau das Bauchgefühl. Dieses Bauchgefühl muss ich für mich einfach annehmen. In dieses Schema passt das Wissenschaftliche, die Biologie nicht mehr hinein.

Ich kann nach draußen gehen und kann Pflanzen fotografieren. Aber dann sehe ich die Pflanze als Pflanze und nicht als wissenschaftliches Gebilde. Genauso ist es beim Schreiben: Wenn ich in ein bestimmtes Gefühl hineinversetze, dann schreibe ich anders, als wenn ich einen normalen Fachartikel herunterschreibe.

Viabilia: Weil Sie dann nach dem Tod Ihrer Frau diese Gefühlsebene zugelassen haben? Bzw. während der Zeit schon, wo sie gestorben ist.

Dr. Kreuels: Vielleicht schon in dieser Zeit, ja. Ich habe gemerkt, dieses Gefühl tut mir gut. Ich kann damit arbeiten. Das hat aber nichts mehr mit Wissenschaft zu tun.

Viabilia: Das heißt, die Post mortem-Fotografie hat bei Ihnen etwas mit Bauchgefühl und Gefühl generell zu tun?

Dr. Kreuels: Ja, genau. Und weil ich auf einmal eine andere Rolle als Vater mit vier Kindern hatte. Die Mutter, die das Warme in unsere Familie einbrachte, war auf einmal nicht mehr da. Die Kinder können aber ohne diese Wärme nicht existieren. Nur als rationaler Vater zu agieren, funktioniert bei vier Kindern nicht.

Vielleicht musste dieser Wechsel sein, um die vier Kinder besser auffangen zu können, weil die alle auch noch sehr klein waren.

Viabilia: Konnten Sie das, Ihre Kinder in deren Trauer auffangen, wo Sie selber so eine große Trauer hatten?

Dr. Kreuels: Es war eine Zeitlang fast nicht möglich, würde ich sagen. Dann ging es, als ich meine Trauer selbst zugelassen hatte. Dann haben meine Kinder auch anders reagiert auf das, was ich gemacht habe.

Und darauf kommt es mir letztendlich an. Ich will nur noch über die Bauchgefühl-Schiene arbeiten.


Männer trauern anders – Neuland „Gefühle“

Viabilia: Wenn Sie Ihr Leben jetzt vergleichen mit dem Leben zuvor, als Ihre Frau noch am Leben war: Können Sie sagen, dass Sie etwas dazu gewonnen haben, wenn Sie jetzt mehr den gefühlsmäßigen Teil leben, als vorher den rationalen Teil?

Dr. Kreuels: Auf jeden Fall. Jetzt ist das Leben intensiver. Ich habe in meinem Buch 17 Jahre: Heike ist gegangen geschrieben, dass ich in meiner Ehe nicht wach war, ich viele Gefühlsregungen gar nicht mitbekommen habe. Hinweise, die ein anderer Mensch liefert, habe ich nicht mitbekommen. Heute würde ich diese eher mitkriegen.

Viabilia: Hat sich dann im Laufe der Zeit, wo Sie nach dem Tod Ihrer Frau mehr auf Ihre Gefühle achten, Ihre innere Gefühlswelt einfach erschlossen oder mussten Sie das erst lernen?

Foto von Dr. Martin Kreuels einer Pflanze

Bild: © Dr. Martin Kreuels

Dr. Kreuels: Das war Neuland für mich, meine Gefühlswelt zu erkunden, das habe ich erst erlernen müssen, ja. Ich habe mir viel im Selbstversuch über Schreiben erschlossen, über Selbstreflektion:

  • Was ist das für ein Mensch?
  • Was machst du gerade?
  • Warum entscheidest du gerade so?

Ich bin damit sicher nicht am Ende, aber ich bin ein ganzes Stück weiter als vor dem Tod meiner Frau.

Viabilia: Mich wundert überhaupt, dass dies geht. Ich dachte immer, wenn man grundsätzlich nicht gewohnt ist, über Gefühle zu sprechen, dass die eigenen Gefühle bildlich gesprochen in einer Mauer eingeschlossen sind. Und wenn man diese Mauer aufgeschlagen bekommt, was zum Beispiel in Ihrem Fall mit dem Tod Ihrer Frau einhergegangen sein könnte, und man kommt aus diesem “Verlies” heraus, dass man erst einmal geblendet ist. Ist es tatsächlich möglich, ohne Anleitung oder gute Beispiele oder Begleitung von einer anderen Person das ganz alleine hinzubekommen?

Dr. Kreuels: Das ist ein Prozess, und ging sicherlich nicht von heute auf morgen. Am Anfang habe ich mich gefragt, wie ich in bestimmten Situationen reagiert habe. Ich wollte mich selbst kontrollieren. Das war ein Punkt. Ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Frau haben wir ein Trauercafé aufgemacht. Damit Trauernde mit vielen anderen Menschen ins Gespräch kommen können.

Die Gespräche waren zwischen Frauen und mir, und nicht zwischen Männern und mir. Da habe ich gesehen: Frauen ticken anders als Männer. Sie reden ganz anders. Sie zeigen ihre Tränen.

Viabilia: Und hatten Sie mit Männern ein echtes Trauergespräch?

Dr. Kreuels: Über mein neues Buch mit den zugehörigen Interviews kam es tatsächlich mit Männern zu Gesprächen über die Trauer. Wo man die inneren Kämpfe merkt.

Viabilia: Das ist dann eine Erleichterung?

Dr. Kreuels: Ja, das ist eine Erleichterung.

Viabilia: Wenn Sie in Sachen Trauer gelernt haben, dass Sie Ihre Gefühle zulassen, ist es dann wahrscheinlich, dass Sie in anderen Bereichen Ihre Gefühle auch besser zulassen können? Das beschränkt sich ja nicht nur auf das Gefühl der Trauer. Ich kann mir vorstellen, dass dies Auswirkungen generell auf das gesamte Gefühlsleben hat?

Dr. Kreuels: Das selbst zu beurteilen, ist etwas schwierig. Ich weiß, dass ich versuche, meine Gefühle in meine Arbeit einfließen zu lassen. Wenn ich zum Beispiel die Lesungen sehe, und die Diskussionen, die wir nach den Lesungen haben, das macht allen Seiten großen Spass.

Wenn sich die Menschen nach einer solchen offenen Diskussion bei mir bedanken, denke ich mir, eine Seite angesprochen zu haben, die mir selbst nicht bewusst war, aber den Menschen hat es in einer Art und Weise geholfen.

Viabilia: Wenn Sie jetzt dieses Buch schreiben “Männer trauern anders als Frauen”, könnte ich mir vorstellen, dass zu Ihren Lesungen mehr Männer kommen als Frauen.

Dr. Kreuels: Da bin ich gespannt. Zu den Lesungen meines Buches 17 Jahre: Heike ist gegangen kommen zu 95 % Frauen, und die Männer, die mitkommen, sind dort, weil ihre Frauen sie dorthin mitgenommen haben. Deshalb habe ich keine Ahnung, ob zu den Lesungen meines neuen Buches mehr Männer kommen. Ich weiß aber, dass sich viele Frauen angemeldet haben, das Buch erwerben zu wollen, damit sie besser wissen, wie Männer ticken – weil diese Brücke häufig gar nicht da ist.

Das merkt man ganz viel in Partnerschaften, wo ein Kind gestorben ist, dass sich die Ehepartner trennen – weil diese Brücke fehlt. Frauen trauern in diesem Fall schneller als der Mann trauert. Sie gehen in ihrer Trauer verschiedene Wege.

Ein Mann zum Beispiel ist in einer Selbsthilfegruppe von 10 Familien, die alle ihre Kinder verloren haben. Er sagte: von den 10 Ehepaaren sind mittlerweile 9 Paare geschieden. Sie Partner können nicht mehr miteinander reden, weil der Weg ihrer Trauer nicht mehr zusammenpasst. Durch diese Erfahrung des Verlusts eines Kindes haben die Partner so unterschiedliche Wege eingeschlagen, dass die Partner zueinander sagen müssen: “Wir verstehen uns so nicht mehr”.

Ob das Buch dazu führt, dass ich mehr Männer anspreche: ich glaube, es sind wieder die Frauen, die glauben, dieses Buch zu brauchen, weil sie gerne wissen wollen, wie Männer ticken. Bei der Sterbebegleitung sind fast nie Männer dabei, es sind so gut wie immer Frauen. Es gibt wirklich nur ganz wenige Männer, die Sterbebegleitung machen.

Vielen Dank für dieses spannende Interview!

Das Interview führte Betina Graf mit Dr. Martin Kreuels.