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Coronakrise - die Welt steht Kopf: Corona - Krise oder Chance?

Coronakrise psychologisch: „Krise“ oder Chance? - Corona aus psychologischer Sicht

Betina Graf im Interview mit einer Psychologin am 27.3.2020

Dass die Coronakrise, ähnlich wie die sogenannte Spanische Grippe vor rund 100 Jahren, in die Geschichtsbücher eingehen und auch im kollektiven Gedächtnis lange präsent bleiben wird, stellt mittlerweile niemand mehr in Frage. Eine derartige Situation – eine weltweite Quarantäne zur Verhinderung unkontrollierter Infektionen – ist noch nie da gewesen; das macht unseren Umgang mit dieser Herausforderung so interessant, vor allem aus psychologischer Sicht. Wir haben zu diesem Thema ein Interview mit einer niedergelassenen Diplom-Psychologin geführt, welches Sie auf dieser Seite lesen können. Unsere Interview-Partnerin möchte anonym bleiben; uns ist ihr Name bekannt.

Das Interview beruht nicht auf Studien oder Statistiken, sondern auf den individuellen Erfahrungen. Im Verlauf des Gesprächs kamen wir auf verschiedenste Themen zu sprechen, zum Beispiel:

  • Ängste während der Coronakrise, insbesondere die “Angst vor Ansteckung”
  • wie Depressionen mit der aktuellen Situation zusammenhängen können
  • der vielbeschworene “Lagerkoller” und andere zwischenmenschliche Auswirkungen der Quarantäne
  • wie man der Coronakrise vielleicht etwas Positives abgewinnen kann

Wir hoffen, dass Ihnen das Interview vielleicht ein wenig dabei helfen kann, die psychologischen Reaktionen auf die Krise – Ihrerseits wie auch von anderen – besser zu verstehen und die momentane Krise nicht nur irgendwie zu überstehen, sondern sogar gestärkt aus ihr hervorzugehen.

Angst in der Coronakrise: vor allem eine “Angst vor Ansteckung”

Viabilia: Ich würde unser Interview gerne damit beginnen, die Konsequenzen, die sich für uns Menschen aus der Coronakrise ergeben, aus psychologischer Sicht zu betrachten.

Psychologin: Die Coronakrise ist keine typische Krise. Sie hat für uns vielmehr zwei Gesichter: sie kann von uns als echte Krise empfunden werden – oder als Chance.

Viabilia: Das heißt also, grundsätzlich müssen Krisensituationen wie die Coronakrise nicht unbedingt negativ bewertet werden?

Psychologin: Richtig. Ich habe festgestellt, dass sich bei weitem nicht alle in einer Krisensituation befinden, und nicht alle die Auswirkungen des Coronavirus als Krise empfinden. Da gehen die Geister weit auseinander. Ich spreche hierbei zunächst einmal von der Angst vor Ansteckung. Ich erlebe generell zwei Reaktionen. Es hat ja etwas harmloser angefangen, als wir noch nicht so betroffen waren. Da erlebte ich das Verhalten der Leute entweder eher als leugnend, nach dem Motto: „Das ist ja nicht so schlimm“ – oder die Gegenposition dazu: in Panik zu geraten. Wir stehen ja nach wie vor noch am Anfang der Pandemie, d. h. es sind nur wenige infiziert und die meisten sind gesund bzw. nicht infiziert oder nicht krank geworden. Von daher befinden wir uns in Deutschland – bzw. weltweit – erst am Beginn der Coronakrise, denn wir wissen ja nicht, wie sich alles entwickeln wird.

Zwei Fragen, die in der Coronakrise Abstand zueinander halten

Viabilia: Es gibt also praktisch zwei Sichtweisen: die einen, die die Krise leugnen und die anderen, die in Panik geraten. Gibt es auch so etwas wie eine „mittlere“ Reaktion?

Psychologin: Ja, im weiteren Verlauf beobachte ich viele moderate Reaktionen, also Leute, die sich an die Einschränkungen halten, z. B. 1,5 bis 2 Meter Abstand voneinander zu halten, und die diese Einschränkungen gut finden, aber trotzdem nicht überängstlich sind. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die mir begegnen, gehören – zumindest in der jetzigen Phase – dieser Kategorie an. Beziehen wir das auf die erwähnte Angst vor Ansteckung, ist nicht eine wirtschaftliche Krise das Problem, denn das ist ja ein Sekundär- und kein Primärfaktor – sondern vielmehr die reale Angst vor der Ansteckung, vor Krankheit und vor dem Tod.

Die Angst, ein Überträger des Coronavirus zu sein

Viabilia: Die Angst verteilt sich also unterschiedlich stark auf diese drei Gruppen. Entsprechen diese Gruppen denn den Risikogruppen, in die sich die Bevölkerung einteilen lässt?

Psychologin: In diesem Fall ist es ja tatsächlich so, dass wenn man zur Risikogruppe gehört und befürchten muss, dass man eine Ansteckung nicht überlebt, sich die Situation ganz anders darstellt als für einen Gesunden, der nicht unbedingt davon ausgehen muss, dass diese Erkrankung tödlich verlaufen könnte. Da können Welten dazwischen liegen. Aber es ist oft so, dass Personen, die mit Risikogruppen – zum Beispiel Pflegebedürftigen – in Kontakt sind und diese versorgen, eine besondere Angst haben, sich selber anzustecken und dann als Folge die Erkrankung weiterzugeben.

Viabilia: Haben diese Menschen, wie beispielsweise medizinisches Personal oder Pflegepersonal, Angst um ihr eigenes Leben, wenn sie nicht zur Risikogruppe gehören, oder haben sie eher Angst, dass sie andere anstecken, mit denen sie zu tun haben und die der Risikogruppe angehören?

Psychologin: Personen in Pflegeberufen haben natürlich vermehrt Angst um ihr Leben und bestimmt ringen sie oft mit sich, ob sie zum Wohl anderer an vorderster Front kämpfen wollen oder ob sie lieber auf sich selbst sehen wollen, um ihr Leben in Sicherheit zu bringen. Auch besteht die Gefahr, dass sie andere anstecken, bevor sie Symptome an sich bemerken können. Ich denke, man müsste diesen Personengruppen, besonders wenn sie selbst gefährdet sein könnten, das Recht geben zu entscheiden, ob sie weiterarbeiten wollen oder nicht. Dem medizinischen Personal sowie dem Pflegepersonal sollte unsere besondere Wertschätzung und Anerkennung gebühren.

Viabilia: Das ist ja schon beeindruckend, dass man Angst haben muss, ein Überträger dieses Virus zu sein.

Psychologin: Ja. Es gibt die Möglichkeit, eine todbringende Krankheit zu übertragen, ohne dass man selbst davon betroffen ist. Das ist etwas Neues, was ja bisher normalerweise so tragend nicht in Erscheinung getreten ist.

Die Krise um COVID-19: Wenn aus der Angst Depression wird

Viabilia: Diese Gruppen haben also Angst, Krankheitsüberträger/innen zu sein. Und welche Gruppen haben dann Angst, schwer zu erkranken? Sind das nur die, die man als Risikogruppen einstuft? Oder sind das auch andere Gruppen, die Angst haben, obwohl sie nicht zu den Risikogruppen zählen?

Psychologin: Ich bin immer wieder erstaunt: Die Menschen, von denen man annimmt, dass sie ängstlich seien, sind das oftmals nicht – und umgekehrt. Es muss nicht unbedingt so sein, dass jemand in einer Risikogruppe vor Angst erstarrt. Das kann man nicht 1:1 so zuordnen. Ich glaube, hier ist die Einteilung in Gruppen schwierig, weil ja doch dabei das Individuelle eine große Rolle spielt. Mich erstaunen zum Beispiel die Reaktionen von Patient/innen. Die, bei denen man annehmen könnte, sie müssten jetzt besonders ängstlich sein, sind es eigenartigerweise nicht. Oder Panikpatient/innen, die bei allen möglichen Auslösern sehr schnell Angstzustände bekommen – interessanterweise tritt bei denen nicht unbedingt Panik ein. Es gibt Patient/innen, die ungewöhnlich gelassen reagieren, obwohl man sonst befürchten muss, dass sie in die Klinik eingewiesen werden müssen, weil sie ihre Angstzustände nicht aushalten.

Viabilia: Beruhen die Angstzustände dieser Patient/innen also nicht auf äußeren, plötzlich eintretenden Krisensituationen?

Psychologin: Richtig. Es kommt sehr stark auf die innere Interpretation der äußeren Ereignisse an. Das bedeutet, dass bestehende depressive Patient/innen durch die Coronakrise nicht unbedingt depressiver werden. Es kann sogar der gegenteilige Effekt eintreten, dass sie dadurch aus der Depression herausgerissen werden, weil plötzlich etwas passiert, was nicht nur mit ihnen zu tun hat und ein Einzelschicksal ist, sondern das auch andere betrifft. Zumindest besteht für diese Patient/innen plötzlich eine Verbindung zu anderen, denen es ähnlich ergeht. Das sind offensichtlich Faktoren, die dazu beitragen können, dass das eigene Leid in so einer Phase gemindert wird und eine Verbesserung der Symptomatik eintreten kann. Das ist oft so: Im Krieg gibt es wenige Depressionen. Da geht es ums Überleben, da ist man nicht depressiv. Depressiv wird man aus anderen Gründen. Das kann man hinterher werden, aber nicht währenddessen.

Gesundheit, Depression und COVID-19: Die Wirtschaft ist im Moment unwichtig – oder?

Frau mit Mundschutz

Viabilia: Aus welchen Gründen wird man depressiv?

Psychologin: Wirtschaftliche Faktoren können zum Beispiel dazu beitragen. Oft besteht nach einem Krieg, um beim obigen Beispiel zu bleiben, zwar nicht mehr die reale Bedrohung an „Leib und Leben“, aber wirtschaftliche Engpässe spielen eine Rolle, wenn die Existenz nicht gesichert ist oder wenn man nicht weiß, wie es weitergeht. Das spielt auch jetzt in der Coronakrise wieder eine Rolle, da einige Berufsgruppen jetzt besonders betroffen sind. Es gibt Menschen, die müssen um ihre Existenz fürchten. Diese sind noch stärker von Depressionen bedroht bzw. der Möglichkeit, in eine Depression zu geraten, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse sich drastisch zum Negativen ändern. Die Menschen haben dann das Gefühl, die Situation nicht in der Hand zu haben und die Schwierigkeiten nicht bewältigen zu können. So kommt es, dass vermeintlich geringere Gründe – wirtschaftliche Verhältnisse sind im Vergleich zu Krankheit und möglicherweise Tod ja weniger gewichtig – manchmal schwerwiegender sind und sich mehr auf den Gemütszustand legen können als eine faktische Bedrohung.

Viabilia: Mit „faktischer Bedrohung“ meinen Sie dann die Bedrohung der Gesundheit der Menschen?

Psychologin: Ja, Krankheit und ein möglicher Tod, wenn man sich infiziert hat.

Viabilia: Das heißt, depressive Menschen werden nicht durch die Angst vor realen Gefahren wie Krankheit oder Tod depressiv/er, weil es ja den anderen auch so geht?

Psychologin: Was in der Coronakrise jetzt gerade passiert, ist ein kollektives Schicksal. Das bedeutet: Jeder ist potenziell bedroht, Krankheit und Tod könnten jedem widerfahren. Es wird ja momentan davon ausgegangen, dass ein großer Teil der Bevölkerung irgendwann infiziert sein wird. Das macht das Ganze kollektiv und länderübergreifend. Zu wissen, dass es anderen Menschen ähnlich oder gleich geht, kann auch ein Trost sein.

Viabilia: Verstehe ich das richtig: die unmittelbare Bedrohung durch das Coronavirus lässt Menschen eher nicht noch depressiver werden, aber wenn diese depressiven Menschen dann merken, dass sie wirtschaftlich betroffen sind und nicht wissen, wie sie da rauskommen – und dann noch der Faktor Unsicherheit dazu kommt – die Depressionen dadurch verstärkt werden könnten?

Psychologin: Ja, aber auch bei nicht-depressiven Menschen kann der (ungewisse) wirtschaftliche Faktor im weiteren Verlauf depressionsfördernd sein.

Viabilia: Und in diesem Fall hilft es dann nicht, wenn man sieht, dass die anderen auch von wirtschaftlichen Nöten betroffen sind – so wie das mit der Angst vor Krankheit und Tod ist?

Psychologin: Da gibt es dann doch Unterschiede, denn es sind ja wahrscheinlich nicht alle wirtschaftlich betroffen. Ein Teil der Bevölkerung ist betroffen, ein anderer Teil nicht. Es sei denn, die gesamte Wirtschaft käme irgendwann zum Erliegen. Aber davon ist hoffentlich erst einmal nicht auszugehen.

Viabilia: Stimmt, es sind erst einmal nur bestimmte Berufsgruppen wie darstellende Künstler/innen oder Gastronom/innen wirtschaftlich negativ betroffen.

Weshalb die Coronakrise auch eine Chance für Depressive sein kann

Psychologin: Um noch einmal zu den depressiven Menschen zurückzukommen: In meiner Praxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass manch depressiver Patient und manch depressive Patientin sinngemäß sagt: „OK, wenn es mich erwischt, ist es nicht so tragisch, dann hätte ich eine Möglichkeit, eventuell zu gehen.“

Viabilia: Also zu sterben?

Psychologin: Ja. Auch das gibt es. Ich will jetzt nicht behaupten, dass diese Personen in der Mehrheit vorhanden sind, aber für einen schwer depressiven Menschen oder einen Menschen, der das Gefühl hat, in einer aussichtlosen Situation zu sein, kann solch ein Gedanke durchaus eine Hoffnung darstellen.

Viabilia: Sind diese Menschen, die diesen Gedanken hegen, dann besonders suizidgefährdet?

Psychologin: Sie sind ohne Coronakrise suzidgefährdet oder zumindest latent suizidgefährdet.

Ausweg aus der Depression finden

Viabilia: Das heißt also, die Coronakrise kann bei depressiven Menschen entweder dazu führen, dass sie weniger depressiv sind, weil sie sich möglicherweise mit anderen Menschen, denen es genauso geht, verbunden fühlen – oder sie können in der aktuellen Situation resignativ denken, „na ja, dann ist das halt der Ausweg aus meiner Depression“?

Psychologin: Resignativ vielleicht nicht. Dieser Gedanke, „dann habe ich das als Ausweg“, kann durchaus dazu führen, dass diese Menschen die Begrenztheit des restlichen Lebens miteinbeziehen und es ihnen in der Folge sogar besser gehen kann. Ein schwer depressiver Mensch, der suizidal oder suizidgefährdet ist, kann den Rest seines Lebens bzw. seine restliche Lebensspanne als erschreckend ansehen. Wenn dieser Mensch dann denkt, „wenn es mich trifft und mein Leben früher endet, dann hätte ich jetzt nur noch so und so lang“, mag das unter Umständen ein Kick bzw. eine Motivation sein, diese restliche Zeit anders zu verbringen. Also, anders im Vergleich zum sonstigen depressiven Alltag, der öde ist und in dem man sich abgeschirmt vom Leben fühlt.

Viabilia: Für diese Menschen wäre das ja möglicherweise sogar eine Chance, zumindest vorübergehend aus der Coronakrise gestaltend etwas zu gewinnen.

Psychologin: Es wäre möglich – ich sage nicht, dass das überwiegend der Fall ist – dass die Coronakrise für depressive Menschen auch eine Chance bedeuten kann, die eingefahrene Bahn ihres Denkens und Fühlens noch einmal verlassen zu können.

Viabilia: Aber auch nur in dieser begrenzten Zeit? Und wenn die Coronakrise vorüber ist und wieder Normalität einkehrt, wäre alles für diese Menschen wahrscheinlich wieder wie vorher? Oder hätte diese depressiven Menschen, die sich aus ihrer Depression etwas herausbewegen konnten, dann einen dauerhaften Vorteil davon?

Psychologin: Möglicherweise kann es eine Wendung bedeuten, wenn dieser Mensch fühlt: „Aha, da gibt es noch etwas, was mir das Leben lebenswert macht.“ Wenn er bzw. sie das über eine längere Zeit hinweg erfährt, kann das durchaus ein Anstoß sein, diesen neuen Weg auch fortzusetzen.

Viabilia: Das betrifft jetzt aber wahrscheinlich nicht alle depressiven Menschen.

Psychologin: Nein, sicher nicht alle. Aber: wie schon erwähnt, kann diese Krise auch eine Chance sein. Interessant ist, ich wiederhole mich hier, dass gerade Menschen, von denen ich erwarte „oh je, denen geht es jetzt besonders schlecht mit Corona“, mir wie in einem „Geständnis“ sagen: „Eigentlich geht es mir gar nicht so schlecht.“ Und dann stellt sich heraus, denen geht es momentan sogar sehr gut …

(Wir lachen.)

COVID-19 und die Kontakteinschränkungen als Katalysator und Klärer familiärer Beziehungen und Paarbeziehungen

Viabilia: Themenwechsel: Durch die momentane Situation sind die meisten zusammen mit mit Eltern, Kindern, Partner/in usw. auf ihre Wohnung beschränkt. Wie viel Prozent der Menschen können dieses Aufeinandersitzen positiv gestalten? Man spricht ja auch vom „Lagerkoller“.

Psychologin: In Prozentzahlen ist das schwer auszudrücken. Ich denke, es kommt insbesondere auf die Qualität der Beziehungen an. Wenn es vorher gekriselt hat, wird es noch mehr kriseln, wenn man ständig zusammen ist. Das kann zu großen Konflikten führen. Doch selbst diese Konflikte können eine Chance darstellen, die Beziehung zu klären. Unter Umständen kann sich zum Beispiel bei Paaren ergeben, dass das Paar auseinandergeht – aber dann ist damit auch etwas geklärt. Oder aber das Paar findet wieder zueinander und kann die Beziehung neu definieren. Das heißt, die Corona-Situation mit all den Kontakteinschränkungen kann für Beziehungen eine neue Chance bedeuten.

Vater, der mit seinem Kind spielt

Viabilia: Kann man sagen, dass eine Krise wie die momentane Coronakrise bei Paarbeziehungen einen Beschleunigungs- und Klärungseffekt haben kann?

Psychologin: Nicht nur bei Paarbeziehungen, sondern überhaupt bei familiären Beziehungen. Die Probleme, die da sind, treten zutage. Damit besteht die Möglichkeit, sich damit zu beschäftigen und neue Lösungen zu finden.

Viabilia: Und wie viele dieser Lösungen sind freiwilliger Natur? Also: Wenn sich ein Paar zum Beispiel dafür entscheidet, anders miteinander umzugehen oder sich zu trennen – wie viel ist davon freiwillig, und wie viel ist von außen aufgezwungen?

Psychologin: Also – freiwilliger Natur ist selten etwas. 

(Wir lachen.)

Das Meiste geschieht unfreiwillig. Niemand würde freiwillig sagen: „So, wir sitzen jetzt das ganze Wochenende nur aufeinander, wie aneinandergekettet, und beschäftigen uns miteinander.“

(Wir lachen wieder.)

In welchen Fällen kann der „Lagerkoller“ eintreten?

Viabilia: Der vielbeschworene „Lagerkoller“ muss also nicht zwingend auftreten?

Psychologin: Ein Lagerkoller kann, aber muss nicht zwingend in familiären Situationen auftreten. Ein Beispiel: eine Mutter, die mehrere Kinder hat, von denen zu Hause jeder „sein Ding“ machte, keine Gemeinschaft, keine Kommunikation, alles war zerstritten und zersplittert. Und plötzlich, seit dem Auftreten von COVID-19, ist das Zusammensein harmonisch und bei weitem kommunikativer als im normalen Alltag. Diese Mutter sagt: „Momentan läuft es prima.“ Es muss selbstverständlich nicht so sein, aber auch solche Fälle gibt es. Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen, die jetzt bestehen, ist das soziale Leben reduziert. Gerade in Familien und Partnerschaften ist man gefordert, sich wieder intensiver aufeinander zu beziehen. Das führt entweder zu massiven Konflikten und es kracht – oder es kann das Gegenteil bewirken, nämlich dass man wieder aufeinander zugeht und einen Weg findet, wieder miteinander zu sprechen und Zeit miteinander zu verbringen. Dass man den anderen vielleicht wieder mehr wertschätzt, weil – na ja, wenn man im normalen Alltag so selbstverständlich tagtäglich zusammen ist, ist das nichts Besonderes; aber jetzt sind die nahestehenden Menschen wieder die Hauptbezugspersonen. Die Bedeutung dieser Personen kann einem dann mehr bewusst werden.

älteres Paar, das sich an den Händen hält

Viabilia: Eine Krise, wie sie die Coronakrise darstellt, kann also eine Art Katalysator und Klärer familiärer Beziehungen sein. Die Coronasituation mit ihren Kontakteinschränkungen fördert praktisch das zutage, was man vorher eher überspielen und vermeiden konnte. Verstehe ich das richtig?

Psychologin: Genau, richtig. Es ist in der Situation der Kontakteinschränkungen, wie sie derzeit bestehen, schwieriger, Spannungen aus dem Weg zu gehen. Man ist sozusagen gezwungen, sich miteinander auseinanderzusetzen. Für diejenigen, für die die Beziehung ohnehin positiv gefärbt ist, ist das eine Gelegenheit, mehr gute Zeit miteinander zu verbringen. Für die anderen, bei denen es nicht so ist, besteht die Möglichkeit, die Beziehung zu verändern, das heißt, die Beziehung anders zu gestalten oder eben auseinanderzugehen.

Viabilia: Das kann dann ja durchaus zu Verlassenheitsgefühlen oder dem Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, führen. Kann denn tatsächlich jemand in so einer Krise von Partner oder Partnerin im Stich gelassen werden?

Psychologin: Ja. Spreu und Weizen trennen sich, das kann man auch hierauf anwenden.

Viabilia: Das kann schon ernüchternd sein.

Psychologin: Ich sehe es eher positiv und weniger ernüchternd. Ich sehe es als Klärung, nach der die Betroffenen wieder neue Weg beschreiten können, sei es gemeinsam, oder sei es jeder für sich. Es ist auch sonst so, im „normalen“ Leben. Wenn schwere Lebenskrisen eintreten, wie zum Beispiel eine Krankheit oder andere widrige Umstände, dann verhält es sich ähnlich: Entweder die Wege gehen auseinander, oder man findet sich auf einem gemeinsamen Weg. 

Viabilia: Das heißt, Sie empfinden Trennung zunächst einmal nicht als etwas Negatives, sondern als Ausgangspunkt, neue Wege zu gehen?

Psychologin: Genau. Als Klärung und als Startpunkt für Neues im Leben. Hierzu passt ganz gut der folgende Spruch:

Es geht nicht darum,
was dir im Leben passiert,
sondern wie du darauf reagierst.

Epiktet

Es kann für jede/n unterschiedlich sein, wie sie oder er die Krise empfindet und wie sie oder er darauf reagiert.

Viabilia: Man kann also nicht sagen: „Das ist die Ursache, und das die erwartete Reaktion.“ Vielmehr kann es ganz anders kommen, als man erstmal gedacht hat.

Psychologin: Ja, genau. Das ist doch auch das Interessante am Leben: Es ist nicht immer vorhersehbar. Klar kann man Prognosen stellen, wie es werden könnte. Aber im Endeffekt weiß man nicht, ob das genau auf die einzelne Person wirklich so zutrifft.

Viabilia: Haben Singles da eigentlich einen Vorteil?

Psychologin: Singles sind eher von Einsamkeit bedroht und dadurch eher in der Gefahr, depressiv zu werden. Paare haben eher das Problem, dass es mal krachen kann. Je nach Situation gibt es Vor- und Nachteile.

Die Coronakrise als Hochphase häuslicher Gewalt

Viabilia: Ich habe gelesen, dass mit vermehrter häuslicher Gewalt gerechnet wird. Was sagen Sie dazu?

Psychologin: Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Wie ich schon gesagt habe: Spreu und Weizen werden getrennt. Wenn man sehr viel Zeit miteinander verbringt, ist das Potenzial zu Spannungen da, zumal, wenn vorher schon Schwierigkeiten bestanden haben. Das kann sich potenzieren. Die Ausweichmöglichkeiten sind geringer, deshalb besteht die Gefahr, dass sich innere Spannungen oder Spannungen miteinander in äußeren Eskalationen entladen können.

Viabilia: Auch in Form von körperlicher Gewalt?

Psychologin: In jeglicher Hinsicht, sei es verbal, sei es körperlich. Da sind alle Varianten möglich. Durch das verstärkte Zusammensein-Müssen, bei dem man sich nicht aus dem Weg gehen kann, kann man im Außen keinen Ausgleich finden; somit ist durch die erhöhte Spannung auch das Potential für psychische und physische Gewalt gegeben. Das ist die Kehrseite: auf der einen Seite kann man durch die gemeinsame Zeit zueinander finden, aber auch das krasse Gegenteil ist möglich. Es kommt auf die Persönlichkeiten an, die in der Beziehung aufeinander treffen.

Viabilia: Ist das denn ratsam, diesen Aspekt konkret in die Überlegungen miteinzubeziehen, wann man die Maßnahmen zur Kontakteinschränkung wieder lockern kann? Ist das in der Krise eher nebensächlich oder sehen Sie darin ein wichtiges Argument, das mit in die Entscheidung einfließen sollte?

Psychologin: Grundsätzlich sollte man bedenken, was durch die Maßnahmen ausgelöst wird. Dass Gewalthandlungen entstehen können, ist nur ein Teil der Auswirkungen. Die Grundlage ist doch, dass die Einschränkungen auf die Psyche drücken und Menschen dann in Stimmungslagen bringen kann, die nicht positiv sind: Die einen reagieren vielleicht eher depressiver und ziehen sich zurück, die anderen werden vielleicht aggressiver, oder beides gemischt. Alles zusammen ist ein zu berücksichtigender Aspekt: der Einfluss auf die Stimmung der Menschen. Abschließend möchte ich noch sagen: Es ist natürlich eine Sache des Abwägens, was wichtiger ist. Wenn die Gesundheit im Vordergrund steht und es nicht zu verantworten ist, dass die Sperren aufgehoben werden – aufgrund der gesundheitlichen Bedrohung – dann ist natürlich alles andere untergeordnet: die Gefahr für Gewaltakte, die Gefahr, dass Menschen depressiv werden können … Es geht darum, abzuwägen, was das größere Übel nach sich zieht.

Wie junge Leute mit der Coronavirus-Situation umgehen …

Viabilia: Wieso fallen in Zeiten der Kontakteinschränkung – zumindest zu Anfang – vor allem junge Menschen negativ auf?

Psychologin: Einmal liegt es in der Natur der Jugend, dass das Althergebrachte und die Regeln der Gesellschaft nicht anerkannt werden, dass Neues erkundet und in diesem Zusammenhang die eine oder andere Regel überschritten wird. Das andere, was mir dazu einfällt, ist: Gerade Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind die Kontakte zu Gleichaltrigen sehr wichtig. Der Kontakt zur Familie tritt im Jugendalter bzw. im jungen Erwachsenenalter zurück. Von daher erscheint es für diese Personengruppe wenig attraktiv, die Zeit mit den Eltern verbringen zu dürfen. Gerade die Einschränkung, dass sich junge Menschen nicht mehr miteinander treffen dürfen, bedeutet eine gravierende Einschränkung ihres Lebens. Von daher ist es verständlich, dass das zunächst einmal nicht so ganz akzeptiert wird. Die neuen Einschränkungen werden von Erwachsenen in der Regel nicht so schwerwiegend und intensiv erlebt wie von jungen Menschen.

Viabilia: Die anfängliche Übertretung der Kontakteinschränkung durch manche Jugendliche verfolgte also keine bösartige Intention, sondern war von den Bedürfnissen dieser Altersgruppe geleitet, der es besonders schwer fällt, die Kontakteinschränkungen einzuhalten.

Psychologin: Genau. Im Prinzip sind die Jugendlichen besonders tangiert, weil die Verbundenheit in diesem Alter nicht mit den Eltern oder Geschwistern gelebt wird, sondern mit Gleichaltrigen und Freund/innen. Was mir noch dazu einfällt: Wir sind ja erst am Beginn einschränkender Maßnahmen. Noch ist es nicht so, dass uns diese ganz schlimmen Fälle im Alltag selber treffen. Wir kennen wenige, die infiziert sind, und die meisten kennen wahrscheinlich niemanden im privaten Bereich, der daran gestorben ist. Von daher kann es sein, dass, sobald es mehr Opfer gibt, die Dramatik bzw. die Gefahr noch viel deutlicher werden und dann natürlich auch die Jugendlichen den Sinn einer solchen Maßnahme erkennen.

… und wie es die Alten in der Gesellschaft tun

Viabilia: Mir ist auch noch eine Frage eingefallen: Man überlegt ja, wie man die Risikogruppen schützen will, wenn die Maßnahmen für alle wieder gelockert werden sollen. So könnte dann eine kleinere Bevölkerungsgruppe, d. h. die Risikogruppen, möglicherweise noch weiter mit diesen Kontakteinschränkungen zu tun haben. Das wären ja dann vor allem ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen. Wir haben ja gesagt, dass die physische Distanz oft gar nicht als so „schlimm“ empfunden wird, weil man ja die modernen Medien hat, über die man kommunizieren kann. Unter Umständen fühlt man sich sogar weniger allein als vorher. Die Über-80jährigen sind aber mit den modernen Medien in der Regel nicht so vertraut. Wenn man nun ausgerechnet diese Gruppe isoliert, dann kann sie doch gar nicht wirklich von den digitalen Kommunikationsmedien profitieren. Oder unterschätze ich die Lernfähigkeit unserer Senior/innen?

zwei ältere Damen auf einer Bank

Psychologin: Gehen wir einmal davon aus, dass sie den Umgang mit den neuen Medien nicht lernen, d. h. nicht lernen wollen oder zum Beispiel technisch gar nicht dafür ausgerüstet sind. Ich denke, in so einem Fall müsste man sich etwas einfallen lassen, wie man trotzdem den sozialen Bezug gewährleisten kann – zum Beispiel über bestimmte Sonderbezugspersonen. Irgendetwas müsste man sich einfallen lassen, damit es für die Betroffenen nicht zu belastend wird.

Viabilia: Es wird ja eine Corona-Handy-App geben, in der man sich eintragen kann, wenn man schon infiziert war und die Krankheit hinter sich hat. Die Annahme ist, dass man nach der Erkrankung – zumindest für eine gewisse Zeit – resistent ist und zunächst einmal niemanden mehr anstecken kann.

Psychologin: Das ist eine gute Idee, wenn die bereits Geheilten, die keine Virusüberträger mehr sind, sich als Kontaktpersonen und Unterstützungspersonen für die Menschen melden, die den Risikogruppen angehören. Ich sehe vor meinem inneren Auge Freiwillige oder dafür bezahlte Menschen, d. h. ehrenamtlich oder in Form einer bezahlten Tätigkeit. Das so zu handhaben wäre ein guter Gedanke, so dass die betroffenen Personen, die den Risikogruppen angehören, nicht vereinsamen und leiden.

Kann die Krise um COVID-19 zu Depressionen führen?

Viabilia: Nochmal zu den Depressiven: Sie haben ja vorher gesagt, dass die Suizidraten in einer Krise, wie sie die Coronakrise darstellt, nicht automatisch sinken werden. Sie haben ja gesagt, dass aus einer solchen Krisensituation depressive Menschen gestärkt hervorgehen können, indem sie in der Lage sind, ihr Leben wieder besser aktiv zu gestalten.

Psychologin: Es gibt unterschiedliche Faktoren dieser Krise: Das eine ist die Gesundheitsbedrohung bzw. die Lebensbedrohung, das andere ist die erzwungene Isolation. Die Menschen werden ja jetzt erst einmal gezwungen, die sozialen Kontakte zu minimieren und immer mehr einzustellen, um sich und andere vor der Ansteckungsgefahr zu schützen. Letzteres kann gerade bei depressiven Menschen fatale Folgen haben. Generell ist es für depressive Menschen sehr schlecht, wenn sie sich von sozialen Kontakten abschirmen müssen; depressive Menschen haben zumeist an sich schon weniger soziale Kontakte, weil sie nicht in der Lage sind, in ihrer Situation auf andere Menschen zuzugehen. Und wenn diese Kontakte dann auch noch sehr reduziert werden, dann kann das gerade für depressive Menschen sehr gefährlich werden. Es gibt aber unterschiedliche depressive Menschen: Es gibt den Depressiven, der im Bett liegt und zu keinem Kontakt hält. Diesem Menschen ist es vielleicht eher egal, ob er die Möglichkeit hat, seine Kontakte zu pflegen oder nicht. Aber es gibt ja auch eher versteckt depressive Menschen, die viele Kontakte pflegen, sich beschäftigen mit ihrem Leben, mit ihrem Alltag, und viel unternehmen; wenn diese Aktivitäten und diese Möglichkeiten zu sozialen Kontakten eingeschränkt werden, dann kann es sein, dass die Depression richtig zu Tage tritt und offensichtlich wird. Diese Menschen sind dann bei weitem mehr gefährdet als Menschen, die ohnehin ein zurückgezogenes Leben führen. Durch Aktivität und mit vielen sozialen Kontakten kann viel kompensiert werden. Wenn diese Kompensationsmöglichkeit nicht mehr vorhanden ist und das Positive, was ein angenehmer sozialer Kontakt gibt, ebenfalls unerreichbar wird, dann kann das sehr stark beeinträchtigen. Die Einsamkeit und Isolation kann verstärkt werden, und dann könnte die Voraussage, dass die Selbstmordrate steigt, zutreffen.

Viabilia: Und zwar nicht wegen der Bedrohung von Gesundheit und Leben, sondern wegen der sozialen Isolation?

Psychologin: Ja, zum Beispiel.

Viabilia: Und wenn jetzt die Gesundheitsbedrohung und die soziale Isolation zusammenspielen, in welche Richtung geht das dann?

Psychologin: Wie es im Einzelfall sein wird, ist schwer zu sagen. Was überwiegt dann? Überwiegt die Annahme, den anderen gehe es genauso schlecht und man kann plötzlich aus seiner Depression etwas herausfinden, oder überwiegt die Wirkung der sozialen Isolation? Die soziale Isolation ist schon etwas sehr Schwerwiegendes, was nicht zu unterschätzen ist. Aber deshalb kann, wenn der Mensch nicht mehr so weitermachen kann wie bisher und in seinem normalen Alltag erschüttert wird, durchaus trotzdem etwas entstehen, was neu ist und was auch einem depressiven Menschen weiterhelfen kann.

Viabilia: Durch die soziale Isolation in der Coronakrise, die sie vorher als solche gar nicht gekannt haben, kann also auch in logischer Folge bei einigen Menschen eine Depressionsveranlagung erst offenbar werden.

Psychologin: Diese Möglichkeit kann auch bestehen, ja.

Viabilia: Sie haben ja gesagt, dass latent depressive Menschen, die ihre Depression durch Aktivitäten überdecken und so selber gar nicht merken, dass sie eigentlich zur Gruppe der depressiven Menschen gehören, nun durch die soziale Isolation mitbekommen, dass sie depressiv sind. Wie kann man denn unterscheiden, ob man eigentlich depressiv ist, aber das bislang durch Aktivitäten überdeckt hat, oder ob die soziale Isolation einen „ganz normal“ deprimiert?

Psychologin: Im Prinzip kann natürlich die soziale Isolation auch bei jemanden, der ansonsten depressionsfrei ist oder wenig von Depressionen geplagt wird, eine solche auslösen oder verstärken. Das ist eine ganz große Gefahr,vor allem für Personen, die alleine leben: dass durch diese erzwungene soziale Reduzierung und soziale Isolation vermehrt depressive Gefühle der Traurigkeit, der Einsamkeit und der Verlassenheit entstehen können.

Viabilia: Das heißt, diese Gefühle können ganz normal sein und nichts mit einer persönlichen Tendenz zu Depressionen zu tun haben?

Psychologin: Ja. Es gibt ja nicht nur die depressiven und die nicht depressiven Menschen, das Leben kennt nicht nur schwarz und weiß. Von daher ist von einer Depression zu sprechen, wenn die Symptome der Depression zunehmen, so dass sie offenbar werden. Aber es gibt alle Abstufungen: Stimmungsschwankungen, schlechte Tage, dann wieder bessere.

Viabilia: Man könnte also eine imaginäre Grenze ziehen zwischen denen, die sich im erträglichen Ausmaß unwohl oder allein fühlen und denjenigen, denen es mal so, mal so geht, bis hin zu denen am anderen Ende der Skala, die verzweifelt sind und sich unerträglich einsam fühlen.

Psychologin: Ja, da gibt es sicherlich alle Abstufungen. Ein Mensch, der eher nicht zu Depressionen neigt, wird in der Regel, nachdem das Gebot zur sozialen Isolation wieder aufgehoben ist, wieder zur Normalität zurückkehren können.

Viabilia: Und jemand, der seine Depressivität in der Coronakrise durch die soziale Isolation entdeckt hat – wie wird dieser Mensch dann hinterher aus dieser Krise herauskommen? Wir er oder sie dann die Depression beibehalten oder kann man das wiederum durch Aktivitäten überspielen?

Psychologin: Es kann sein, dass die Depression während der Krise richtig zum Vorschein kommt und man sich damit eingehender befassen muss. Es kann auch sein, dass sie nach der Krise wieder in den Hintergrund tritt, weil die Normalität zurückkehrt. Das kann man schwer prognostizieren.

Von der äußeren zur inneren Krise: Chancen für einen Neuanfang erkennen

Viabilia: Also kann auch hier eine Krisensituation wie die Coronakrise einen Katalysatoreffekt haben. Es hängt von unserem eigenen Umgang mit der Krise ab, was wir aus diesen Erkenntnissen für uns herauslesen: Ob wir hinterher dabei bleiben, wie es vorher war, oder ob wir wirklich aktiv an uns und unserer Psyche arbeiten wollen.

Psychologin: Ah, ja, der Katalysatoreffekt. Einmal zurück zum Begriff der Krise und deren Entstehung: Vergleichen wir das einmal mit der Natur, genauer gesagt: mit einem Erdbeben. Dabei wird alles erschüttert und durcheinandergeworfen. Hinterher findet man die Welt nicht mehr so vor, wie sie vorher war. Man ist gewungen, sich neu zu orientieren. Für die einen kann das der Untergang sein, für die anderen der Weg in etwas Neues, auch Besseres. Da fällt mir die Tarotkarte „XVI Der Turm“ als Beispiel ein: Bei dieser Karte geht es darum, dass alte Strukturen gesprengt werden, die unter Umständen auch nicht mehr passen; das ist kein angenehmer Vorgang, sondern eher eine Veränderung, die als gewaltsam empfunden wird, da man sich ihr ja nicht freiwillig aussetzen würde. Aber es kann dadurch etwas Neues entstehen, was zu einem besseren Leben als dem vorherigen führen kann – im Sinne einer Läuterung und Neudefinition. Das kann man nicht nur in Bezug auf Paare oder auf Familienkonstellationen sehen, sondern es kann auch das eigene Innere betreffen: dass man sich noch einmal ganz anders damit beschäftigt, was für einen wichtig ist und was nicht. Was das Leben für einen bedeutet.

Viabilia: Was meinen Sie damit, dass manche Menschen untergehen können in so einer Krise? Was bedeutet da „Untergang“?

Psychologin: Untergang kann bedeuten, am Alten unbedingt festhalten zu müssen. Wenn etwas Altes vergeht, aber man es nicht akzeptieren kann, dass das, was nicht mehr sein soll, verändert wird, dann kann man unter Umständen daran zerbrechen.

Viabilia: Was heißt „zerbrechen“ genau?

Psychologin: Zum Beispiel, depressiv zu werden oder von Angst geplagt zu sein, verbittert zu werden – oder auch krank zu werden.

Viabilia: Gehören diese Menschen dann zu der Gruppe, die auf diese Krise panisch reagieren und die dann andere mit dieser Panik anstecken? Ich habe es selber nicht erlebt, aber habe davon gehört.

Psychologin: Ja, Panik kann ansteckend sein. Die Möglichkeit besteht, dass der „Virus der Angst“ überspringt. Aber die Panik legt sich irgendwann, denn jeder muss sich wieder mit den konkreten Dingen des Lebens beschäftigen und sich damit auseinandersetzen.

Viabilia: Panik ist also nur eine erste Reaktion auf das Eintreten einer Krise?

Psychologin: Auf etwas Unberechenbares, etwas Neues, etwas, von dem ein Mensch glaubt, keine Lösung dafür zu haben; bei dem er nicht weiß, wie er sich vor diesen Widrigkeiten schützen kann.

Viabilia: Das heißt, da spielt der Faktor Unsicherheit eine große Rolle?

Psychologin: Ja.

Viabilia: Unsicherheit und die Ungewissheit, wie es weitergeht.

Psychologin: Genau. Ich würde bei dem Beispiel des Erdbebens bleiben wollen: Wenn die Erde bebt, ist der Stand unsicher. Er wird erst später wieder sicher und man muss sich mit den neuen Begebenheiten auseinandersetzen. Natürlich kann das im Äußeren sowie im Inneren passieren: eine zunächst äußere Krise kann auch im Inneren ein Beben auslösen und weiterreichende Folgen haben.

Viabilia: Was können da das Äußere und das Innere zum Beispiel sein? Die äußeren Erdbeben wären ja zum Beispiel, wenn die eigene berufliche Selbstständigkeit in Gefahr ist und man schaut, wie man diese Krise übersteht bzw. meistert – oder wenn man arbeitslos wird. Was wären Beispiele für innere Faktoren, die ein „äußeres Erdbeben“ auslösen kann?

Psychologin: Wenn man aus seinem normalen Alltag herausgerissen wird, sozusagen „geschüttelt“ wird, und man alles wieder neu überdenken muss. Weil die Situation nicht der Normalität entspricht, weil das Leben in der Zukunft anders ablaufen kann und man weiß nicht, wie.

Viabilia: Das heißt, das Innere wäre dann eine innere Verunsicherung.

Psychologin: Ja, eine innere Verunsicherung. Angst spielt eine große Rolle. Man ist gezwungen, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Es wird neu gewürfelt, und es gibt unter Umständen ein neues Ergebnis. Das muss aber nicht auf jeden zutreffen, nicht bei jedem wird das Leben grundsätzlich verändert.

Wie die Coronakrise das Gute in uns zu Tage fördern kann

Viabilia: Man merkt ja auch positive Effekte, wie einen Zusammenhalt unter den Menschen.

Psychologin: Ja. Ich glaube überhaupt, dass die Coronakrise nicht nur negativ zu sehen ist, auch für den einzelnen Menschen. Obwohl man zunächst einmal auf sich selbst zurückgeworfen wird, spielt das soziale Miteinander eine ganz große Rolle. Es geht erst einmal jedem ähnlich, denn alle sind bedroht. Und es betrifft nicht nur ein Land, sondern die ganze Welt. Die Tatsache, dass die Coronakrise weltweit ist, ist noch einmal etwas Besonderes: Man steht nicht alleine da, die ganze Menschheit ist betroffen. Kollektiv. Es betrifft den einen wie den anderen. Das ist ein verbindendes Element. Wir sind Menschen, und jeder einzelne gehört dazu. Meine Hoffnung ist, dass diese Erschütterung der Menschen dazu führen kann, dass sie sich auf ihr Menschsein besinnen, dass sie nicht alleine auf der Welt sind und nicht jeder alleine „vor sich hin kämpft“, sondern dass es besser ist, so eine Krise gemeinsam zu bewältigen.

Viabilia: Ich merke auch, dass ein großer gesellschaftlicher Konsens besteht, diese soziale Isolation – ich möchte fast sagen: freiwillig – zu ertragen, weil man eben Schwächere, ältere Menschen und andere Risikogruppen – trotz der massiven wirtschaftlichen Folgen, die zu erwarten sind – tatsächlich schützen will. Das heißt, es herrscht ein eindeutiger Konsens darüber, was den Wert eines Menschen angeht.

Psychologin: Genau. Es ist ein Akt der Menschlichkeit, der passiert. Die Betonung von Wirtschaftlichkeit und Profit in unserer Leistungsgesellschaft tritt momentan in den Hintergrund tritt und der Schutz der Menschen – jedes einzelnen Menschen und vor allem der Menschen, die einer Risikogruppe angehören – wird jetzt weltweit als wichtig angesehen. Man geht nicht einfach darüber hinweg, wie es ja theoretisch auch er Fall sein könnte. Selbst die Politik wird sich immer einiger in diesen Zeiten, was ein erstaunliches Phänomen ist. Mit diesem gemeinsamen „Akt der Menschlichkeit“ wachsen wir Menschen zusammen. Das ist in diesem Fall sogar grenzüberschreitend. Der positive Effekt könnte sein, dass nach der Krise nicht nur die einzelnen Menschen im eigenen Umfeld, sondern auch die Länder viel mehr miteinander vernetzt sein könnten – im positiven Sinne – und alle mehr aufeinander achten und somit frühere Barrieren einreißen. Auch die Natur ist hier miteinbezogen. Es wird davon berichtet, dass diese Krise positive Auswirkungen auf die Natur hat und sich Tiere und Pflanzen erholen können, die vorher durch die – ich sage mal: Genusssucht der Menschheit – in den Hintergrund getreten sind. Diese Achtung der Natur und der Lebewesen in der Natur gegenüber könnte eine große Chance für uns Menschen sein.

Viabilia: Und nicht nur im sozialen und gesellschaftlichen Bereich, sondern auch im persönlichen Bereich kann man einen Zusammenhalt merken – dass man nicht allein ist und dass einem in Notsituationen geholfen wird. Das hätte man möglicherweise vorher so überhaupt nicht gedacht.

Psychologin: Ja, und das sind die zwei Seiten der Krise: einerseits die soziale Isolation, andererseits das Wissen „OK, dem anderen geht es genau so oder ähnlich“. Es kann eine Verbundenheit entstehen.

Viabilia: Dann muss man vielleicht den allgemeinen Sprachgebrauch korrigieren: es geht um eine physische Isolation, die nicht unbedingt eine soziale Isolation bedeuten muss. Man kann ja, wenn man einander nicht persönlich sieht, trotzdem miteinander kommunizieren und sich sozial sehr eingebunden, unterstützt und verstanden fühlen. Das heißt, diese Gefühle sind nicht unbedingt an die pyhsische Anwesenheit einer anderen Person gekoppelt.

Psychologin: Genau. Das ist übrigens ein interessantes Phänomen, was sich im Laufe der Zeit entwickelt hat: die Möglichkeit, nicht nur in direktem Kontakt miteinander zu kommunizieren, sondern auch auf Distanz durch verschiedene Medien, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Das ist etwas Neues, was über das Materielle hinausgeht, über den physischen Kontakt hinaus. Wir kommunizieren im Moment viel über die Stimme. Man kann über Bilder oder Videos kommunizieren. Und möglicherweise kann man ja sogar gedanklich kommunizieren und spürt, wie wir gerade in diesem Gespräch, dass eine grundlegende Einigkeit zum Thema besteht. In Krisen spielt Religion eine große Rolle. In so einer Zeit können gläubige oder spirituelle Menschen in ihrem Glauben Trost finden. Das heißt, es zählt nicht nur das Materielle, sondern es findet sozusagen eine Betrachtung im übergeordneten Sinne statt. Viele Menschen beten und gehen davon aus, dass die Gedanken und Bitten, die man im Gebet zum Beispiel an Gott richtet, eine Wirkung zeigen. Sprich: dass es nicht nur eine materielle, sichtbare Ebene gibt, sondern auch eine andere Ebene, die physisch nicht greifbar ist. Esoterische Richtungen gehen davon aus, dass sich gerade jetzt, in der Zeit der Coronakrise, wegweisende Veränderungen ergeben.

Viabilia: Möglicherweise verändert sich das Bewusstsein der Menschen aufgrund der Coronakrise in einer überraschenden Art. Ein Beispiel: Die länderübergreifende Solidarität, die wir sehen, zum Beispiel im Umgang mit Italien, wo das Gesundheitssystem völlig überfordert ist und andere Länder wie Deutschland schwerkranke Corona-Patient/innen aufnehmen. Das schafft noch einmal ein anderes Bewusstsein dafür, was wirklich von Wert ist. Das, was uns vorher so wertvoll schien, wie beispielsweise die dritte tolle Bratpfanne oder Modetrends, wird nun nachrangig und plötzlich treten andere Werte zum Vorschein, die einen erstaunen können. Wenn man die Situation mit vorher vergleicht, insbesondere das mitfühlende und empathische Handeln der Menschen in dieser Krisensituation, dann verwundert und berührt mich das persönlich schon. Natürlich wird irgendwann der Ruf danach laut, das Wirtschaftssystem wieder hochzufahren, denn man kann ja nicht dauerhaft einen Zustand wie jetzt gerade haben. Die Hoffnung dahinter ist ja, dass sich die Kurve der Infizierten nachhaltig abflacht und man dann anfangen kann, konkret andere Lösungen umzusetzen. Aber alles in allem ist es schon ein sehr empathischer Weg, den wir da gerade beschreiten.

Psychologin: Ich denke auch, dass das eine große Chance ist. Es ist schön, zu beobachten, wie zwischen den Menschen mehr Liebe und Mit-Menschlichkeit herrscht. Ich bin optimistisch und gehe davon aus, dass sich das weiter entwickeln kann. Dass durch dieses kollektive Schicksal eine bessere Menschheit geschaffen werden kann, die sorgsamer, menschlicher, bewusster mit sich und mit anderen umgeht.

in der Coronakrise miteinander beten kann helfen

Viabilia: Die Rückbesinnung auf den eigenen Glauben kann auch ein Mittel der Angstreduzierung sein?

Psychologin: Ja. Der Glaube und das Wissen (für diejenigen, die glauben), dass es noch etwas Anderes gibt außer dieser physischen Welt.

Viabilia: Bedeutet das dann, dass sich meine Angst vermindert, wenn ich zum Beispiel gläubig bin und mehr bete?

Psychologin: Natürlich. Oder auch miteinander beten: Das ist sicherlich etwas sehr Angstreduzierendes und Hilfreiches für die Menschen – und das war es übrigens schon immer in Krisensituationen.

Die Psychologie hinter Hamsterkäufen

Viabilia: Ich habe noch eine Frage. Ich habe dazu schon einiges im Internet nachgelesen und verschiedene Erklärungsansätze gefunden, aber ich wäre einfach neugierig, was Sie dazu sagen, weil es mir so völlig unverständlich ist: die berüchtigten Toilettenpapier-Hamsterkäufe. (Die Psychologin lacht.) Ich verstehe diese Hamsterkäufe nicht, weil ja die Krankheit COVID-19, keinen Durchfall mit sich bringt. Man hat keinen verstärkten Klopapier-Verbrauch. Warum kaufen die Leute die Supermärkte leer, als ob es nie wieder Toilettenpapier geben würde? (Wir lachen.)

die Psychologie hinter den Hamsterkäufen von Toilettenpapier

Psychologin: Da muss ich erst darüber nachdenken, ich verstehe es auch nicht.

(Wir lachen.)

Viabilia: Kann das so eine Art Übersprungshandlung sein? Ich habe gelesen, dass die Leute Sicherheit suchen, und zwar „übersprungsmäßig“ in Dingen, die man in der Hand hat, weil man sonst in der Coronakrise als Individuum ja eher wenig in der Hand hat.

Psychologin: Ja, Toilettenpapier ist etwas Handfestes. (Wir lachen.) Wenn man Toilettenpapier benutzt, hat das mit Würde zu tun. Dem eigenen Körper nicht ausgeliefert zu sein. Wenn es nichts mehr zum Abputzen gibt, ist es ein würdeloser Zustand, in dem man sich befindet. Das fällt mir dazu als Gedanke ein.

Viabilia: Ich habe es nicht verstanden, aber da alle Klopapier gekauft haben, dachte ich mir, ich muss jetzt auch noch eine Packung zusätzlich kaufen. Warum auch immer …

(Wir lachen erneut.)

Psychologin: Wenn man sieht, dass etwas weniger wird, dann hat man den Impuls, noch mehr davon zu nehmen. Weil man Angst bekommt, da könnte bald ein Engpass sein. Das ist vergleichbar mit dem “Virus der Angst“: Wenn der einmal übergesprungen ist, dann springt er bald zum Nächsten.

COVID-19: Was kann ich tun, wenn ich Angst habe?

Viabilia: Wenn wir einmal zu diesem ersten Thema zurückkehren: Wieso ist Angst übertragbar und wie kann man den Menschen helfen, die eine außerordentlich große Angst haben? Und wie kann man sich davor schützen, dass Angst und Panik überspringen?

Psychologin: Ich denke, gut ist, dass ein Konsens darüber besteht, wie man mit der Coronakrise umgehen soll. Es sind Maßnahmen eingeleitet worden, wie man sich vor der Ansteckung mit dem Coronavirus schützen kann. Das wird von außen zum Beispiel gegen die Angst getan. Die Bevölkerung in Deutschland weiß, dass alles getan wird, um diese Krise gut bewältigen zu können und den betroffenen Menschen zu helfen. Das ist etwas sehr Beruhigendes. Dann ist angstreduzierend, wenn man mit Personen zusammen ist und sich austauschen kann, mit denen man sich gut und verbunden fühlt, so dass man nicht alleine ist bzw. sich nicht alleine fühlt. Außerdem ist es hilfreich, sich mit dem zu beschäftigen, was für einen selbst wichtig ist. Sich im Inneren zu fragen: Was macht mir denn jetzt wirklich Angst?

  • Ist es die Angst vor dem Tod?
  • Ist es die Angst, dass der normale Lauf der Dinge die Richtung ändert?
  • Ist es die Angst, jemanden zu verlieren?

Worum geht es eigentlich? Je mehr man sich mit der Angst beschäftigt, desto weniger wirkt sie aus psychologischer Sicht. Von daher sind Maßnahmen, um Angst zu vermeiden, meistens eher schlecht. Wenn man sich mit der eigenen Angst auseinandersetzt, wird die Angst weniger, zum Beispiel, wenn man ein größeres Problem vor sich hat und endlich den Mut aufbringt, es anzugehen.

Viabilia: Das heißt, es helfen zunächst schon kleine Schritte in diese Richtung – dass man für sich selber wieder eine bessere Ausgangslage herstellt, sich informiert, immer so viel, wie man es gerade ertragen kann, und tatsächlich etwas tut, um praktisch das, wovor man Angst hat, dann schrittweise zu bewältigen.

Psychologin: Ja, genau. Und dass man selber darüber nachdenkt: Was kann ich jetzt tun, um mich zu schützen oder um einen positiven Beitrag für andere zu leisten? Was kann ich als vermeintlich „kleine Person“ tun, damit es besser werden kann – in Bezug auf mich selbst und in Bezug auf andere? Das können auch kleine Schritte sein, indem man beispielsweise um Hilfe bittet oder indem man jemand anderem hilft.

Viabilia: Das sind also angstreduzierende Faktoren?

Psychologin: Personen, die viel Angst haben, kreisen in ihrer Angst „rauf und runter“. In der Phase der Angst ist es immer gut, sich mitzuteilen, und wenn etwas benötigt wird, den anderen darum zu bitten. Zum Beispiel:

  • „Bleib bei mir.“
  • „Können wir heute telefonieren?“
  • „Ich brauche gerade deine (virtuelle) Gesellschaft.“
  • „Kannst du mir einen Gefallen tun?“

Trost im Glauben finden

Viabilia: Das heißt, in der Phase der Angst sollte man andere um das bitten, was einem gegen die Angst helfen kann?

Psychologin: Genau. Das Gefühl des Ausgeliefertseins an eine große Sache wie die Coronakrise, gegen die man nichts machen kann, soll reduziert werden und man soll sich darauf zu besinnen, was jetzt gerade möglich ist und was man tun kann. Ich möchte hier auch von der religiösen und spirituellen Ebene sprechen. Der Glaube kann angstreduzierend sein: Das Vertrauen darauf, dass es nicht nur das Materielle gibt, sondern eine höhere Kraft, oder Gott, oder geistige Welt, wo es Wesenheiten gibt, die es gut mit einem meinen, zum Beispiel Engel. Sich damit zu beschäftigen, kann die Angst vermindern. Für jemanden, der daran glaubt, ist das ja real.

Persönliche Erfahrungen in der Krise um COVID-19: Was hilft, was herausfordert

Viabilia: Ich denke, wenn man Hoffnung am Horizont sieht, kann das auch die Angst reduzieren. Wenn man plötzlich merkt: „Ja, diese Situation wird schrittweise wieder anders werden, und ich bekomme Hilfe.“ Zum Beispiel finanzielle Hilfen.

Psychologin: Die finanziellen Hilfen fallen ebenfalls unter den oben besprochenen Solidaritätsaspekt. Menschen, die materielle Einbußen erleiden, erhalten finanzielle Unterstützung.

Viabilia: Auch das ist angstreduzierend.

Psychologin: Ja: Zu wissen, dass ein Netz da ist, das einen unter Umständen auffangen kann.

Viabilia: Dazu zählen dann wohl auch die Informationen über das Coronavirus. Prof. Dr. Drosten von der Berliner Charité zum Beispiel informiert regelmäßig in einem NDR-Podcast und legt die neuesten relevanten Erkenntnisse zum Coronavirus freundlich und sachlich dar. Klare Informationen wirken auf mich persönlich wie ein Wegweiser. Menschen, die eine sachliche Führung durch das Chaos leisten können, die die Regierung beraten und die Entscheidungen nicht überstürzen, sondern auf sachlicher Basis treffen. Das Wissen um diese Bemühungen hat auf mich persönlich jedenfalls einen beruhigenden Effekt.

Psychologin: Ich denke auch, dass Informationen, die nicht auf eine Vermehrung der Panik abzielen, sondern neutral und kompetent weitergegeben werden, eine große Hilfe sein können. Informationen, die nicht die Angst schüren, sondern die dazu führen, dass man etwas tun kann. Wenn man über etwas Bescheid weiß, kann man etwas tun.

Viabilia: Dazu gehört auch, dass man manchmal weiß, dass man etwas noch nicht weiß, zum Beispiel, zu welchem Zeitpunkt die Kontakteinschränkungen wieder gelockert werden können. Man weiß nicht genau, wie sich die Kurve der Infizierten darstellen wird. Trotzdem gibt man diese Unwissenheiten zu und ich verstehe dann, dass es noch keine Entscheidungen gibt, weil ich weiß, warum ich abwarten muss. Andernfalls könnten ungeduldige Rufe kommen, aber durch eine gute Informationspolitik gegenüber der Bevölkerung weiß diese, worum es geht und man vertraut sich dieser Führung gerne an.

Psychologin: Um nochmals einen Gedanken zurückzuspringen und zum Thema zurückzukehren, dass man mit der Familie zusammen sein darf oder muss: Ein Aspekt, der jetzt anders ist, ist, dass die Schule wegfällt, aber das Schulprogramm zuhause bewältigt werden soll. Ich habe festgestellt, dass das für viele Eltern, insbesondere Mütter, eine riesige Herausforderung ist. Sie sehen sich in der Rolle, als Lehrer/in auftreten zu müssen und ihre Kinder dazu anzuhalten, das geforderte Programm durchzuackern. Das verschärft die Krise noch weiter: der tägliche Kampf um dieses Arbeiten und Lernen, der sich den ganzen Tag von früh bis spät hinzieht. Die nächste depressive Gruppe, die dadurch entsteht, sind nicht nur die Kinder, sondern vor allem die leidgeplagten Mütter, die danach wahrscheinlich eine Kur brauchen.

(Wir lachen.)

Es ist einerseits nett für die Kinder, dass sie nicht in die Schule gehen müssen, und sie sehen das als eine Art Ferien an; aber dann doch mit Aufgaben und Leistungsforderungen konfrontiert zu werden … Im Grunde ist es nicht möglich, dass die Eltern die von ihnen abverlangte Aufgabe stemmen können. Das ist eine starke Überforderung für die Familien.

Viabilia: Dazu kommt, dass die Eltern oft trotzdem zusätzlich Heimarbeit haben – mit den Kindern.

Psychologin: Genau. Dann ist der ganze Tag mit Arbeit mehr als ausgefüllt. Ich möchte auch über die Vorteile der Einschränkungsmaßnahmen sprechen. Die positive Seite ist: Die Welt wird mehr oder weniger aus den Angeln gehoben, und alle privaten Dinge auch. Es wird alles verlangsamt. Der hektische Alltag, in dem wir sonst leben, in dem permanent etwas erledigt werden muss, in dem man rumrennt und seine ToDo-Liste abarbeitet, kann im weiteren Verlauf, wenn diese Beschränkungen fortgeführt werden, entschleunigt werden. Für manche Personen ist das noch nicht spürbar, aber es kann, wenn sich die Situation fortsetzt, noch deutlich spürbar werden. Es hat auch einen Vorteil, wenn man sich wieder auf sich selbst besinnen muss, wenn man mehr zum Nachdenken kommt. Wenn man darüber nachdenkt:

  • Was ist eigentlich mir wichtig im Leben?
  • Was will ich vom Leben?
  • Wie geht es mir jetzt, in dieser Krisensituation?

Das kann zu einer Begegnung mit sich selbst führen, mit dem eigenen Inneren, mit den Gefühlen, die man hat. Eventuell führt es auch dazu, das eigene Leben zu überdenken, in welche Richtung man in Zukunft gehen möchte.

Viabilia: Im Homeoffice, fern der üblichen Besprechungen, kam ein Mitarbeiter einer Firma tatsächlich „zur Besinnung“ und hat mit seinem Vorgesetzten gesprochen, dass er so wie vorher nicht weitermachen kann – woraufhin sich für ihn das Arbeitsverhältnis zum Positiven änderte. Das heißt, selbst beruflich kann die Coronakrise positive Folgen haben, indem man lernt, mehr auf sich zu schauen und besser für sich zu sorgen.

Psychologin: Die Corona-Zeit kann weitreichende Auswirkungen auf viele Menschen haben. Sie betrifft viele Menschen, und wenn viele Menschen zum Nachdenken kommen und ein bisschen ihre Richtung ändern, dann kann das für uns als Gesellschaft einen großen Effekt haben und sogar eine Richtungsänderung bewirken.

Viabilia: Ich habe heute in der Kleingartenanlage festgestellt, dass die Gärtnerinnen und Gärtner viel aufgeschlossener sind als sonst; dass sie sehr gerne zu einem kleinen Plausch bereit sind – in gebührendem Abstand natürlich.

Psychologin: Das ist ein interessantes Beispiel: dass in einer Situation, in der die normalen Kontaktmöglichkeiten eingeschränkt sind, plötzlich der Kontakt zu anderen wichtiger und wertvoller wird. Im Alltag rennt man aneinander vorbei, der andere interessiert einen nicht und wird, beispielsweise beim Einkaufen, nicht beachtet. Jetzt wird mehr Augenmerk auf die anderen gerichtet.

Viabilia: Inklusive Lächeln, übrigens.

Psychologin: Ja, positives Augenmerk. Es scheint etwas da zu sein, durch das man sich verbunden fühlt.

Viabilia: Man fühlt sich also sozusagen in der Coronakrise mit diesen ungewohnten Abstandsregeln miteinander verbunden, nimmt aufeinander Rücksicht und wertschätzt, dass auch die anderen diesen Abstand einhalten.

Psychologin: Das sind schöne Erlebnisse.

Viabilia: (mit Humor) Trotzdem darf es von mir aus bald wieder so sein, dass man zusammen etwas unternehmen und feiern kann.

Psychologin: Genau, darauf hoffe ich auch.

(Wir lachen.)

Ende des Interviews

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